Der Terror der islamistischen Sekte Boko Haram in Nigeria offenbart das Versagen des Staates, kommentiert der StZ-Redakteur Christoph Link. Doch er sieht in der Gesellschaft auch Zeichen der Hoffnung.

Stuttgart - Es ist Terror gegen Kinder, was sich da im Norden von Nigeria abspielt. In einem grauenhaften Video rühmt sich der Anführer der islamistischen Sekte Boko Haram grinsend, dass er 200 von ihm gekidnappte Schulmädchen auf dem Sklavenmarkt verkaufen werde – im Namen Allahs. Nicht nur die nigerianische Gesellschaft ist entsetzt über diese Kaltblütigkeit, auch die westliche Welt ist so erschüttert, dass die USA und Großbritannien dem afrikanischen Land ihre geheimdienstliche Hilfe bei der Suche nach den Geiselnehmern angeboten haben. Aber es ist zweifelhaft, ob westliche Unterstützung im islamischen Norden Nigerias wirklich Frieden stiftet oder den Hass nicht noch anstachelt.

 

Das Kidnapping fast einer ganzen Schule ist ein brutaler Höhepunkt in einer Serie von islamistischen Terrorakten, die derzeit einige Regionen Afrikas erschüttern. Erinnert sei an Mali, wo französische Truppen und später UN-Soldaten einmarschierten, um zu verhindern, dass die Taliban der Wüste einen Staat kapern.

Kenia ist ein weiterer Brennpunkt

Doch die Flamme des Heiligen Krieges ist in Mali noch nicht erloschen. Jüngst hat dort die Bewegung für Einheit und Dschihad die Hinrichtung einer französischen Geisel gemeldet. Zum zweiten Brennpunkt scheint sich das Urlaubsland Kenia zu entwickeln, wo Terroristen der somalischen Gruppe Al-Shabaab 2013 einen spektakulären Anschlag auf eine Shopping-Mall verübten und auch dieser Tage eine Blutspur hinterlassen, indem sie Bomben auf Reisebusse werfen.

Allen drei Schauplätzen ist gemein, dass örtliche islamistische Gruppen – denen eine Verbindung zu Al-Kaida nachgesagt wird – durch das Versagen von staatlicher Gewalt groß geworden sind. In Mali hat eine hilflose Regierung mit einer schwachen Armee dem Treiben der Terroristen im Norden lange zugesehen. Kenia hingegen hat seine Streitkräfte vor drei Jahren in einen nicht zu gewinnenden Feldzug gegen die Al-Shabaab-Milizen ins benachbarte Somalia geschickt – eine Welle von Racheakten folgte. In Nigeria hat das Militär einst blindwütig auf die aufkeimende Sekte Boko Haram – der Name steht für „Verbot westlicher Bildung“ – eingeschlagen. Ihr Gründer ist in der Haft getötet, Ehefrauen von Boko-Haram-Mitgliedern sind inhaftiert worden, und die Sekte schlägt zurück. Die Folgen all der Kleinkriege sind gravierend: In den drei Ländern treiben die Islamisten einen Keil zwischen muslimische und christliche Bevölkerung.

Die Mittelschicht geht auf die Straße

In Afrika hat es lange feste Strukturen der Gewalt gegeben – auch gegen Kinder: Sklaverei, die Rekrutierung von Kindersoldaten und Kinderarbeit. Auch das Kidnapping von Schülern ist nicht unbekannt. Die berüchtigten Rebellen der Lord’s Resistance Army in Uganda haben vor Jahren Hunderte von Kindern verschleppt. Auch vor diesem Hintergrund sind die Vorfälle in Nigeria zu sehen. Aber das finstere Kapitel werde sich langsam schließen, hat man geglaubt. Es hat in jüngster Zeit positive Meldungen gegeben, die ein helleres Bild auf Afrika warfen: das hohe Wirtschaftswachstum, höhere Einschulungsraten, sinkende Kindersterblichkeit.

Auch die wachsende Mittelschicht in den Städten gab Grund zur Hoffnung und sie tut es gerade in der Krise wieder: Denn es sind die Mitglieder der Mittelschicht, die nun in Nigeria auf die Straßen gehen und protestieren gegen die konzeptlose Politik der Regierung gegen die Boko-Haram-Sekte. Das gibt immerhin Anlass zu ein wenig Zuversicht: Afrikanische Zivilgesellschaften nehmen ein Versagen ihrer Führungseliten nicht mehr als schicksalgegeben hin, egal ob es um eine Dürrekatastrophe oder eine Terrorbedrohung geht. Sie denken global, sie orientieren sich an humanen Maßstäben aus London, Paris und Washington und nicht an einer Steinzeitpolitik. Sie wollen keinen Rückfall in archaische Zeiten, sie fordern Rechenschaft. Ihre Regierungen werden das zu spüren bekommen.