Der Kreml reagiert auf den Protest in Russland mit Repressionen anstatt mit Reformen. Das ist ein falscher Weg, meint Christian Gottschalk.

Politik/ Baden-Württemberg: Christian Gottschalk (cgo)

Moskau - Dass sich zahlreiche Gegner des russischen Präsidenten Wladimir Putin just zu dem Zeitpunkt am Dienstag den Fragen von Ermittlern zu stellen hatten, als sich in Moskau die protestierenden Massen in Marsch setzten, war nur ein weiterer Versuch, Kritiker mundtot zu machen. So wie die Razzien bei Oppositionellen am Vortag, so wie das Durchpeitschen eines Versammlungsrechts in der vergangenen Woche, das bei näherer Betrachtung ein Demonstrationsverbotsgesetz ist. Die Vernehmungen haben freilich einen fast schon komischen Nebeneffekt: zahlreiche führende Köpfe der Anti-Putin-Bewegung bekommen so ein staatliches Alibi für den Zeitpunkt der Demonstration. Manche sehen darin ein Zeichen dafür, dass dem Herrscher im Kreml sein politischer Instinkt allmählich abhanden kommt.

 

Man darf das, was da in diesen Tagen und Wochen in Moskau geschieht, nicht zu hoch hängen. Es sind nur ein paar Tausend Menschen gewesen, die gestern zum sogenannten Marsch der Millionen gekommen sind. Und das auch nur in Moskau, der mit weitem Abstand präsidentenkritischsten Stadt im Riesenreich. Auf dem Land kann sich Wladimir Putin einer Mehrheit nach wie vor sicher sein – ganz ohne Manipulationen. Man darf das Ganze aber auch nicht auf die leichte Schulter nehmen. Das Heer der Unzufriedenen in Russland wächst beständig, und beständig setzt die Regierung lieber auf Repressionen denn auf Reformen. Das lässt für die Zukunft Schlimmes befürchten.

Völlig verrottetes Land

Putins größte Stütze war bisher die Hoffnung. Die Hoffnung, dass es unter ihm schon besser werden würde – so wie es unter Putin einst besser geworden ist, als er ein völlig verrottetes Land von Boris Jelzin übernahm. Die letzte Umfrage sieht nur noch vier Prozent der Russen optimistisch in die Zukunft blicken. Das ist ein desaströser Wert. Zudem schauen viele Menschen mit bangem Blick in die Vergangenheit. Auf dem Kurznachrichtendienst Twitter haben sich die Oppositionellen des Codes „Hello 1937“ bedient – in Erinnerung an die Säuberungsaktionen des sowjetischen Diktators Josef Stalin. Und die Regierung tut ein übriges, diese Erinnerungen aufrecht zu erhalten. Die Hausdurchsuchungen bei der Opposition hätten „Agitationsprodukte mit antistaatlichen Losungen“ zu Tage gefördert, hieß es von Seiten der Ermittler. Das erinnert in der Wortwahl sehr an das Strafgesetzbuch der UdSSR und „antisowjetische Propaganda“. In Russland hingegen ist Kritik am Staat erlaubt – zumindest offiziell.

Nun erwartet niemand ernsthaft einen Rückfall Russlands in stalinistische Zeiten. Allerdings ist auch die Aufbruchstimmung dahin. Trotz massiver Investitionen wird die Infrastruktur des Landes immer maroder, die Industrie holt ihren Rückstand nicht auf und die Armut nimmt in weiten Teilen der Bevölkerung wieder zu. Wenn es nicht rasch gelingt, dies zu ändern, dann werden auch die Proteste weiter gehen. Die Taktik der Regierung – Einschüchterung, Druck und Repression – wird über kurz oder lang das Gegenteil dessen bewirken, was sich Putin und Co. davon erhoffen, und noch mehr Menschen auf die Straße treiben. Es ist der Beginn eines Teufelskreises.

Den zu stoppen muss auch für Europa von herausragendem Interesse sein. Die Kritik des Westens führt mit dazu, dass sich die russische Führung verstärkt gen Osten wendet. Sowohl beim EU-Russland-Gipfel als auch bei Putins Besuch in Berlin war die Atmosphäre frostig, ganz im Gegensatz zur dreitägigen Visite des russischen Präsidenten in China. Immer mehr kristallisiert sich im fernen Osten eine intensive Zusammenarbeit heraus, wirtschaftlich, aber auch politisch und militärisch; und das mit Partnern, die nichts Gutes erahnen lassen. Die Zentralasiatischen Staaten, Russland und China rücken zusammen – der Iran könnte bald ein Teil des Bündnisses werden.