Der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdogan tritt die Demokratie mit Füßen. Die EU muss sich stärker einmischen, kommentiert StZ-Redakteur Knut Krohn.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Stuttgart - Am Anfang ein klares Wort: die Türkei gehört zu Europa. Wirtschaftlich und politisch ist das Land am Bosporus seit Jahrhunderten eng mit dem Kontinent verzahnt. Und der Erkenntnis, dass der Islam ein Teil Europas ist, kann angesichts der Millionen hier lebenden Muslime niemand ernsthaft widersprechen. Eine ganz andere Frage ist: Gehört die Türkei in die EU? In diesem Fall fällt die Antwort weniger eindeutig aus. Sie lautet: Ja, aber! Seit einer gefühlten Ewigkeit führt Ankara Beitrittsverhandlungen mit Brüssel. Mal scheint die eine Seite, mal die andere die Lust an den schwierigen Gesprächen verloren zu haben. Das Ziel aber ist immer klar: die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union.

 

Im Moment allerdings ist die Türkei offensichtlich nicht reif für den Beitritt. Das zeigen die Ereignisse dieser Tage, in denen das Land von einem gewaltigen Korruptionsskandal erschüttert wird. Die Krise allein ist allerdings kein Grund, mit dem Finger auf die Türkei zu zeigen. Auch in den „EU-Kernländern“ gibt es immer wieder genügend Beispiele für Vetternwirtschaft und Nepotismus.

Per Dekret hebelt der Premier die Gewaltenteilung aus

Das eigentliche Problem ist, wie in Ankara mit der Krise umgegangen wird. Was wir erleben ist ein selbstherrlicher Regierungschef, der in seiner politischen Raserei an den Grundfesten der Demokratie rüttelt. Per Dekret hebelt Recep Tayyip Erdogan die Gewaltenteilung aus und versucht, Polizei und Justiz auf seinen zweifelhaften Kurs zu bringen. Zentrale Stellen lässt er mit treuen Vasallen besetzen, so soll der neue Innenminister offensichtlich die Staatsanwälte an die Kandare nehmen. Auch den Polizeiapparat, der die Verhaftungswelle im Zuge der Korruptionsermittlungen zügig durchgeführt hat, trifft der jähe Zorn des Premierministers. Rund 500 Offiziere wurden durch verlässliche Gefolgsleute ersetzt.

Recep Tayyip Erdogan agiert in diesem Korruptionsskandal wieder einmal mit der ihm eigenen politischen Rücksichtslosigkeit. Offensichtlich hat er aus den Gezi-Protesten nichts gelernt, als im Sommer Millionen Menschen in der ganzen Türkei mehr Demokratie forderten und der brutale Einsatz der Polizei gegen die Demonstranten zu einem internationalen Aufschrei führte.

Das türkische Volk muss entscheiden, welchen Weg es gehen will

Europa darf sich durch die bedenkliche Entwicklung in der Türkei durchaus beeindrucken lassen. Der falsche Weg wäre aber, sich grollend und mahnend aus den Verhandlungen mit Ankara zurückzuziehen. Ganz im Gegenteil: jetzt müssen die wirklich unbequemen Themen offen angesprochen werden. Politische Placebos wie die Verhandlungen über die Visa-Liberalisierung sind nun fehl am Platz. Auf den Tisch müssen nun andere Kaliber, wie etwa das von Ankara ungeliebte Beitrittskapitel 23 über Justiz und Grundrechte. Diese Gespräche müssen mit harten Bandagen geführt werden und die Diskussionen über die Inhalte dürfen nicht – wie in der Vergangenheit üblich – ausschließlich in abgeschotteten Konferenzräumen stattfinden.

Die Gezi-Proteste haben gezeigt, dass Millionen Menschen unzufrieden sind mit dem autokratischen Regierungsstil Erdogans. Sie wollen mehr Freiheit, mehr Rechte, mehr Demokratie. Der Disput muss auf der Straße ausgetragen werden und die EU kann diese öffentliche Auseinandersetzung unterstützen, indem sie die erwachende Zivilgesellschaft unterstützt. Die Vor- und Nachteile eines Beitritts müssen endlich klar benannt werden, zu lange haben sich beide Seiten im Klein-Klein des jahrzehntelangen Verhandlungspokers verloren.

Denn am Ende wird nicht Recep Tayyip Erdogan entscheiden, welche Richtung die Türkei einschlägt: für oder gegen ein säkulares System, für oder gegen eine Westorientierung, für oder gegen die EU. Das Volk wird wählen, in welchem System es leben will: in einem schwachen Staat mit einem selbstherrlichen Herrscher oder in einer lebhaften und stabilen Demokratie.