Die Volkszählung zeigt, dass in Deutschland eineinhalb Millionen Menschen weniger leben als gedacht. Dies ist nur eine von etlichen Überraschungen, meint die StZ-Redakteurin Barbara Thurner-Fromm.

Stuttgart - Deutschland schrumpft – und zwar schneller, als Demoskopen das je prognostiziert haben. Allein durch die Volkszählung haben wir nun auf einen Schlag eineinhalb Millionen Bürger – besser gesagt Karteileichen – weniger. Das ist eine recht große Zahl, und sie verwundert doch angesichts der engmaschigen Bürokratie, die in unserem Land den Menschen von der Wiege bis zur Bahre begleitet.

 

Aber glaubt man den amtlichen Statistikern, dann liegt es ja auch weniger an der fehlenden Akribie der Behörden als an den g’schlamperten Zeitgenossen, dass sie als Schattenmann oder Schattenfrau noch durch Einwohnermeldeämter geistern, obwohl sie längst schon anderswo sind. Wohl wegen besonders saloppen jungen Mitbürgern auf Zeit müssen nun viele Universitätsstädte ihre Einwohnerzahl nach unten korrigieren. Und dass auch besonders viele Ausländer Deutschland unbemerkt wieder den Rücken gekehrt haben, dürfte die ausländerpolitische Diskussion versachlichen.

Die Einwohnerzahl ist mit Geld gekoppelt

Volkszählungen sind selten, damit mehr als nur eine Momentaufnahme, und niemand konnte erwarten, dass es keine Überraschungen geben würde. Aber wenn Berlin plötzlich mehr als fünf Prozent seiner bisher vermuteten Einwohner nicht mehr hat, dürfte die Bundeshauptstadt darüber ebenso wenig erfreut sein wie Konstanz, das als Spitzenreiter im Südwesten sogar um 8,2 Prozent schrumpft. Denn an die Einwohnerzahl ist nicht nur der Zuschnitt der Wahlkreise gekoppelt, sondern vor allem viel Geld: Der Länderfinanzausgleich basiert darauf ebenso wie die Ausgleichszahlungen zwischen den Kommunen. Es wird also erheblich mehr Verlierer als Gewinner geben.

Besonders bei der Bildungsplanung wird man sich in Baden-Württemberg mit seinem überdurchschnittlichen Verlust von 2,5 Prozent fragen müssen, ob all die umstrittenen prognostizierten Schulzahlen noch Bestand haben können, wenn hier fast 275 000 Menschen weniger leben als bisher angenommen. Dass schon im Vorfeld manche Kommunen mit Klagen gegen erwartbare Korrekturen drohten, ist denn aber doch typisch: Lieber gleich schreien, damit ja niemand auf die Idee kommt zu fragen, ob die Gemeinden bisher vielleicht über ihre tatsächlichen Verhältnisse gelebt haben. Dabei wird es bei den Finanzen keine unzumutbar radikalen Schnitte zeitigen: es gelten Übergangsfristen.

Probleme im Wohnungsbau

In einer anderer Hinsicht zeigen die statistischen Ergebnisse jedoch ein Problem auf, das mindestens so wichtig ist: In Deutschland verfügen zwar 45,8 Prozent der Menschen über Wohneigentum, aber das sind weniger als in vielen anderen EU-Ländern. Und es bedeutet im Umkehrschluss: Fast 54 Prozent aller Menschen leben in Miete; in Berlin sind es sogar gut 84 Prozent. Angesichts der rasant steigenden Mieten und Immobilienpreise in großen Städten und Ballungsgebieten hilft auch nicht, dass es 500 000 Wohnungen mehr gibt als vermutet, denn Leerstand und Nachfrage sind regional ungleich verteilt.

Dieses Problem hat die Politik lange vernachlässigt. Denn während immer mehr Wohlhabende angesichts von Bank-Zinsen um die oder sogar unter der Inflationsrate in Beton-Gold investieren, können sich viele Familien ein Häuschen kaum noch leisten. Und für Geringverdiener, Studenten und Rentner gibt es zu wenig bezahlbaren Wohnraum – zumal nicht nur die Mieten, sondern auch die Energiepreise kräftig steigen. Es kann deshalb keinen Zweifel daran geben, dass die Kommunen mehr für den sozialen Wohnungsbau tun müssen.

Das Problem allein beheben können sie aber nicht. Auch die Bundespolitik wird sich des Themas annehmen müssen. Immer lauter grummelt es in der Union, die Forderung der SPD, Mietpreissteigerungen zu deckeln, auch ins eigene Wahlprogramm aufzunehmen. Der aktuelle Zensus bietet dafür neue Argumente.