Wer keine Grenzen setzt, wird nur noch den Fluch moderner Kommunikationsmittel wahrnehmen.

Stuttgart - Noch ein Anruf des Vorgesetzten nach dem Abendessen, noch eine E-Mail an den Kollegen schreiben, bevor man zu Bett geht. Die ständige Erreichbarkeit ist Fluch und Segen zugleich. Doch wer sich selbst - und anderen - keine klaren Grenzen setzt, wird irgendwann nur noch den Fluch der heutigen Kommunikationsmittel wahrnehmen. Denn die flexible Gestaltung der Arbeitszeiten ist zu einem der Paradigmen in der Führung vieler Unternehmen geworden. Sich schnell verändernde Anforderungen von Kunden und Geschäftspartnern sowie die immer schwieriger einschätzbare Entwicklung der Märkte begünstigen diese Flexibilisierung. Die heutigen Kommunikationsmittel tun ein Übriges. So kommt es, dass bei vielen Berufstätigen immer häufiger auch nach Feierabend Geschäftliches zu erledigen ist.

In einschlägigen Umfragen wünscht sich ein erklecklicher Teil der Berufstätigen sogar eine noch stärkere Flexibilisierung der Arbeitszeiten. So ergab kürzlich eine repräsentative Umfrage des IT-Branchenverbands Bitkom unter 1000 Personen, dass fast 60 Prozent der Berufstätigen künftig gerne ganz oder zumindest an einigen Tagen in der Woche von zu Hause aus arbeiten würden. Zehn Prozent arbeiten bereits ganz oder teilweise von daheim. Laut einer Umfrage im vergangenen November unter knapp 4000 berufstätigen Dänen, Italienern, Spaniern und Briten durch das Technologie-Marktforschungsunternehmen Canalys waren weniger als 40 Prozent der Teilnehmer der Meinung, dass sie durch Anrufe außerhalb der offiziellen Arbeitszeit gestört würden. Die Personalberatung Hewitt legte im Februar die Ergebnisse einer Studie vor, gemäß der etwa 80 Prozent der Frauen und fast 70 Prozent der Männer gerne flexiblere Arbeitszeiten in Anspruch nehmen würden.

Ein Unternehmen, das diesen Wünschen nachkommt, sieht Hewitt-Berater Charles Donkor in einer "klassischen Win-win-Situation, mit der Arbeitgeber ihre Wettbewerbsfähigkeit erhöhen und Arbeitnehmer Zeitsouveränität gewinnen, was sich deutlich auf ihre Leistungsbereitschaft auswirkt". Komisch nur, dass andererseits immer mehr Berufstätige darüber klagen, dass sie inzwischen abends oder sogar im Urlaub von Kollegen, Vorgesetzten und Geschäftspartnern angerufen oder angeschrieben werden - verbunden mit der Hoffnung auf eine schnelle Antwort.