Das Direktmandat geht von der CDU auf die Grünen über. Was bedeutet das für die Politiker Siegfried Lehmann (Grüne) und Andreas Hoffmann (CDU)?

Konstanz - Zur Begrüßung kommt Siegfried Lehmann dem Besucher aus seinem neuen Haus entgegen. Er wohnt jetzt in feinster Gegend, der Herr Lehmann. Mettnau. Die Halbinsel gehört zu Radolfzell und ist bekannt für ihre Promikur. SPD-Fraktionschef Peter Struck hat sich hier nach einem Schlaganfall erholt, Exarbeitsminister Riester findet auf der unter Naturschutz stehenden Landzunge am Bodensee ebenso Ruhe wie "Tatort"-Autor Felix Huby und SPD-Urgestein Egon Bahr.

 

Das Haus von Siegfried Lehmann liegt in bester Lage oberhalb des Bodensees. Es gibt sogar ein wenig Seeblick. Es hatte einer alten Frau gehört. Als sie ins Altersheim ging, bekam Lehmann einen Tipp und damit das Haus. Im Dezember ist der 56-Jährige mit seiner Lebensgefährtin eingezogen. Ein Glücksfall. Aber zurzeit nicht der einzige im Leben des Herrn Lehmann.

"Das haben wir nicht gewollt"

Andreas Hoffmann scrollt durch seine E-Mails. Hunderte hat er bekommen. "Die kann ich gar nicht alle beantworten. Alle von Leuten, die sagen: Das kann doch gar nicht sein, das haben wir nicht gewollt." Warum hat der Wähler ausgerechnet ihn, die fleißigste Biene im Wahlkreis 56, aus dem Haus gejagt? Ihn, den Sachwalter der Region in der Landeshauptstadt. Die große Landespolitik hat er den Oettingers, Gönners und Stächeles überlassen. Hoffmann, der Sozialversicherungsfachangestellte, war fürs Klein-Klein zuständig. Den regionalen Themen in Stuttgart Gehör verschaffen, B-33-Ausbau, Sanierung der Klinik, die Schulen im Kreis - das war seine Welt.

In der Studentenkneipe Seekuh muss Siegfried Lehmann am Wahlabend mehrmals auf den Bildschirm schauen, um sich zu vergewissern, dass er richtig sieht. Und doch: er hat den Platzhirsch der CDU besiegt. Mit 34,7 Prozent der Stimmen erhält Lehmann das Direktmandat für die Grünen im Wahlkreis 56. Zu dem gehört die Universitäts- und Behördenstadt Konstanz, aber auch viel ländliche Fläche: die Insel Reichenau, die Halbinsel Höri, Allensbach, Radolfzell. "Vor 30 Jahren hat die CDU auf der Höri noch 70 Prozent geholt", sagt Lehmann.

Für die CDU ist es eine bittere Niederlage. Kontrahent Andreas Hoffmann hat sogar 1640 Stimmen mehr als bei der Wahl 2006 errungen. Aber das reicht nur für 32,8 Prozent. Am Bodensee ist der gebürtige Heidelberger mit seiner Familie heimisch. Erst Ortschaftsrat in Hegne und Gemeinderat in Allensbach, dann Ortsvorsteher, Kreisrat und seit 2001 Landtagsabgeordneter. Jetzt kann er schauen, wo er bleibt.

Lehmann hat die Grünen mitbegründet

Die Sensation des Wahlabends

Der Gewerbeschullehrer Lehmann hat sein Ergebnis verdoppelt. 1222 Stimmen liegt er am Ende vor Hoffmann. Konstanz ist die Sensation des Wahlabends, nur der Gewinn von Mannheim II ist für die Grünen ähnlich überraschend. Lehmann lehnt sich in seinem Sessel vor der Bücherwand behaglich zurück. Ein smarter Mann. Er lächelt in sich hinein. Triumphgefühle sind ihm fremd. Da passt er gut zu Winfried Kretschmann, dem designierten Ministerpräsidenten, den er schon lange kennt. Wie er überhaupt so ziemlich alle und jeden bei den Grünen kennt. Früher Joschka Fischer, Petra Kelly und Jutta Dithfurt, heute Claudia Roth, Renate Künast oder Cem Özdemir. Lehmann hat die Grünen mitbegründet, damals im Januar 1980 in Karlsruhe.

Da hat er noch studiert. Fertigungstechnik auf Lehramt in Stuttgart mit dem Ziel Lehrer für berufliche Schulen. Es war schon sein zweites Studium nach Maschinenbau. Dazwischen war er Ingenieur und Sachverständiger, technischer Zeichner, und ein bisschen Fotograf hat er auch gelernt. Politisch war Lehmann lange Jahre eher einer der Unsichtbaren. Zwar saß er in den Präsidien diverser legendärer Parteitage, aber sonst kümmerte er sich lieber um Kommunalpolitik. Seit 1989 sitzt er für die Grünen in Radolfzell im Gemeinderat. Hier hat er Kärrnerarbeit geleistet.

Irgendwie schon komisch, denkt Andreas Hoffmann. "Viele haben geglaubt, der Hoffmann und die CDU schaffen das sowieso. Da können wir ruhig mal Grün wählen." Was er nicht sagt: sie hätten besser die CDU gewählt, anstatt jetzt Krokodilstränen zu vergießen. Zum Beispiel habe die Lokalzeitung ihn schlecht behandelt, findet er. Sie geißelte seine Omnipräsenz im Wahlkreis, dass er überall mit aufs Bild wollte. Einen gewissen Übereifer konstatieren auch seine Kritiker - und einen Tick Rechthaberei.

Der Herr Lehmann ist jetzt der Platzhirsch

Lehmann hat gelernt, sich Anerkennung zu erarbeiten, sie nötigenfalls zu erkämpfen. Geboren in Lieberose im Oberspreewald, musste der Flüchtlingssohn bei Mitschülern um Anerkennung ringen. In der Hauptschule wurde er nach hinten gesetzt. Zu den Italienern und den anderen Ausländerkindern. Dann die Lehre, später die mittlere Reife, dann Fachhochschulreife. Bis heute spricht er Hochdeutsch und keinen Dialekt. Aber er versteht Alemannisch und Schweizerdeutsch.

Im Jahr 2006 zieht er für die Grünen in den Landtag ein und schafft das Zweitmandat. Im neuen Landtag wird er sich wieder um Bildungspolitik kümmern, sein Lieblingsthema. In der beruflichen Bildung kennt er sich aus. 18 Jahre unterrichtete er an der Gewerbeschule in Singen. Lehmann will weiter Lehrer sein, wenn auch reduziert. Das Mandat aufzugeben kommt für ihn nicht infrage.

Das Leben neu sortieren

Zehn Jahre war Andreas Hofmann für die Christdemokraten im Landtag von Baden-Württemberg gesessen. Zwei Wahlperioden hintereinander. Jetzt muss er sehen, dass er einen Job bekommt - mit 50. Hoffmann hat Frau und zwei Kinder. "Die Familie Hoffmann sortiert ihr Leben nun neu", hat er in seiner Abschiedsmail geschrieben. Der Verlust des Mandats ist eine Zäsur. Hoffmann hat sein Wahlkreisbüro gekündigt, den Strom abbestellt und seiner Sekretärin einen vorzeitigen Ruhestand beschert. Bezirksgeschäftsführer war Hoffmann bei der Barmer zuletzt gewesen. Zuständig für die Landkreise Konstanz, Bodensee, Ravensburg und Sigmaringen, verantwortlich für 125 Mitarbeiter und 16 Geschäftstellen. Zurückkehren kann er nicht so einfach.

Für die Barmer war er nebenbei Beauftragter für die Sozial- und Europapolitik. Da gäbe es noch einiges zu tun. "Noch ist nichts entschieden", sagt er. Doch Hoffmann will in der Politik bleiben, das ist klar. Sein Kreistagsmandat gibt er nicht auf. Ansonsten hat er jetzt vor allem Zeit, die er zuvor nicht hatte. Alle Hobbys hatte er aufgegeben, sogar das geliebte Aquarium. Doch Joggen wird er auch weiterhin. Dreimal die Woche, jeweils rund fünf Kilometer im Wald von Hegne. 1800 Kilometer im Jahr.

Noch immer werkeln die Handwerker um Lehmanns Haus herum. Der Boden im Treppenhaus wird verlegt, der Garten ist eine einzige Baustelle. Zu den Grünen, die unversehens Regierungspartei geworden sind in dem schwarzen Land, passt das ganz gut. Man weiß noch nicht so recht, was da entsteht. Vieles scheint unfertig und unvollkommen. Doch es riecht frisch. Irgendwie nach Aufbruch.