Pflegebedürftige und Behinderte werden zahnmedizinisch zu wenig behandelt. Projekte in Baden-Württemberg gelten als Vorbild.

Stuttgart - Der regelmäßige Gang zum Zahnarzt fällt plötzlich weg, wenn ältere Menschen pflegebedürftig werden. Eine Expertenrunde hat auf Einladung des Freien Verbandes Deutscher Zahnärzte (FVDZ) - mit 18.000 Mitgliedern größter Lobbyverband - in Berlin über die Behandlungsprobleme im Pflegefall und bei Behinderten gesprochen. Wegen zu geringer Bezahlung, hohem Zeitaufwand und unzureichender Technik scheuen viele Zahnärzte die "aufsuchende" Versorgung von Patienten. Verbessert werden könnte auch die zahnärztliche Versorgung von geistig Behinderten, die oft unter Narkose geschehen muss, weil die Betroffenen angstvoll und deshalb behandlungsunwillig seien.

 

Dass die Diakonie Stetten seit Langem mit einer spezialisierten Zahnarztpraxis zusammenarbeitet, wurde als vorbildlich geschildert, allerdings sei das noch "deutschlanduntypisch", bemerkte Karl-Heinz Sundmacher, der Vorsitzende der FVDZ. Er gab zu bedenken, dass viele Behinderte nicht mehr in großen Einrichtungen leben, wo eine eigene Zahnarztpraxis sinnvoll erscheint, sondern eher in Wohngruppen. Auch bei der Versorgung von Pflegebedürftigen gilt Baden-Württemberg als vorbildlich: Schon 2007 hat die Südwest-AOK einen Vertrag mit der Kassenzahnärztlichen Vereinigung geschlossen, die die Prophylaxe bei der Zahnpflege in Altenheimen deutlich ausweitet. Wegen der demografischen Entwicklung sieht Sundmacher allerdings weder Politik noch Zahnmedizin gewappnet: "Es wird nicht genug getan, um den dramatisch ansteigenden Versorgungsbedarf auch nur einigermaßen zu befriedigen", sagte er. Die Zahl der Pflegebedürftigen werde von heute 2,4 Millionen schon in acht Jahren auf fast drei Millionen steigen.

Allerdings wies die FDP-Bundestagsabgeordnete Christine Aschenberg-Dugnus - sie ist Mitglied im Gesundheitsausschuss - darauf hin, dass das seit Januar geltenden Versorgungsstrukturgesetz erstmals die "aufsuchende" zahnärztliche Versorgung auch vergüte. Die Zahnärzte können nun den Mehraufwand in Rechnung stellen. Die Mehrkosten werden auf 128 Millionen Euro im Jahr geschätzt. "Bisher passierte das Aufsuchen doch überhaupt nicht", meinte Aschenberg-Dungus, die Behandlung sei doch "gar nicht erfolgt". In der Runde wurde von den Zahnärzten allerdings bezweifelt, ob der Anreiz ausreicht, damit Zahnärzte Hausbesuche machen.

Scheu vor der "Bettkantenmedizin"

Es werde "nicht funktionieren", befürchtete FVDZ-Chef Sundmacher, die neue Gebühr sei eine "Fehlsteuerung". Andreas Schulte, Leitender Oberarzt der Abteilung Zahnerhaltung an der Uni Heidelberg schilderte die seiner Ansicht nach berechtigte Scheu seiner Kollegen vor der "Bettkantenmedizin". Wie solle man an einem schwer kranken Patienten im Pflegebett ohne Absaug- und Bohrgerät eine schwierige zahnärztliche Behandlung ausführen, fragte er. Das Risiko sei viel zu hoch. Imke Kaschke, Behindertenreferentin bei der Bundeszahnärztekammer und Mitglied im Ausschuss Alterszahnmedizin, wies auch auf die immer noch schwierige Versorgung in Heimen hin. Bei schweren Pflegefällen sei der Zahnzustand oft so, dass man die Patienten stationär in Kliniken für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie einliefere. "Die verlassen das Krankenhaus dann mit einigen fehlenden Zähnen."

Andreas Schulte berichtete Ähnliches: Es könne allerdings nicht die Aufgabe einer hochspezialisierten Universitätsklinik sein, die allgemeine Breitenversorgung der Bevölkerung zu leisten. Es dürfe auch nicht vom "Goodwill" eines Verwaltungsdirektors abhängen, ob und wie ein Pflegebedürftiger behandelt werde.

Roland Sing, früher AOK-Chef und heute Vorsitzender des Landesseniorenrates Baden-Württemberg, sieht ebenfalls großen Handlungsbedarf bei den Behinderten und den zu Hause versorgten Pflegebedürftigen. Er frage sich allerdings, warum der Bundesgesetzgeber sich um diese Fragen kümmern müsse und man neue Vorschriften brauche. "Hier ist Kreativität verlangt; dies ist eine klassische Aufgabe der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen." Sing sagte, er frage sich, was die Krankenkassen und die Kassenärztlichen Vereinigungen "eigentlich tun".