Gemäß Hochrechnungen soll die Einwohnerzahl im Landkreis entgegen dem Bundestrend bis zum Jahr 2035 steigen. Allerdings sagten Prognosen in der Vergangenheit das Gegenteil vorher. Auch die Zahlenbasis ist umstritten.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

Böblingen - Die Zukunft zickt, wenn sie Vorausgesagtes erfüllen soll. „Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.“ So formuliert es der Landrat Roland Bernhard – gleichsam als Warnung vor einem umfangreichen Zahlenwerk aus seinem eigenen Haus, das „Struktur- und Demografiebericht“ betitelt ist.

 

Jener Bericht befasst sich auf fast 80 Seiten mit statistischen Daten. In ihm ist nicht nur der aktuelle Stand erfasst, sei es der Einwohnerzahlen oder des Durchschnittseinkommens, sondern er enthält auch Vorhersagen bis ins Jahr 2035. Auf sie bezieht Bernhard seine Worte. Beliebt sind bei Statistikern Prognosen der Einwohnerzahlen – aus vielerlei Gründen. Aus den Daten leiten Politiker Entscheidungen ab, sei es zur Zahl der in zehn Jahren nötigen Neubauten, der Krankenhausbetten oder des Kindergartenpersonals. Von der Zahl der Bewohner hängt auch ab, wie viel Geld das Land einer Kommune überweist und wie viel ein Bürgermeister verdient. In diesem Sinne wird sich manches Stadtoberhaupt über einen Einkommenszuwachses freuen.

Die Einwohnerzahl durchstößt womöglich die Grenze von 400 000

Entgegen der bundesweiten Entwicklung sagt das Statistische Landesamt dem Landkreis Böblingen ein Einwohnerwachstum voraus. Exakt 381 281 Menschen lebten Ende 2015 im Kreis. 395 100 sollen es 20 Jahre später sein. Das entspricht einem Plus von 5,6 Prozent. Weil die Flüchtlinge noch nicht vollständig erfasst sind, wird womöglich die Grenze von 400 000 Bewohnern durchstoßen.

Auf der Entwicklung der Jahre zuvor fußt freilich das Misstrauen des Landrats. Seit 2005 stieg dies Zahl der Kreisbewohner stetig. Vorausgesagt war das Gegenteil. Die Ursache des Zuwachses war und ist „nicht primär die Geburtenrate, sondern sind größtenteils Wanderungsgewinne“, sagt Lisa Gemmel, die im Landratsamt die Zentralstelle leitet. Einfacher ausgedrückt: Im Landkreis – wie im ganzen Bundesgebiet – sterben mehr Menschen als geboren werden. Den Schwund gleichen Zugezogene aus. Diese Entwicklung wird sich gemäß den Berechnungen der Landesstatistiker in der nahen Zukunft noch verstärken, weil in hiesigen Unternehmen vergleichsweise mühelos Arbeitsplätze zu finden sind.

Jede Frau im Landkreis bringt statistisch gesehen 1,61 Kinder zur Welt. Das ist zwar ein Zehntelkind mehr als der baden-württembergische Durchschnitt, aber „für die Bestandserhaltung wäre eine Geburtenrate von 2,1 notwendig“, sagt Gemmel. Ungeachtet des erhofften Einwohnerzuwachses wird der Durchschnittsbewohner des Kreises immer älter. 43,1 Jahre ist das aktuelle Alter im Schnitt, 3,7 Jahre mehr als noch zur Jahrtausendwende. Bis 2035 ist eine Steigerung auf 45,7 Jahre vorausberechnet, nicht zuletzt wegen eines erfreulichen Umstands: Die Lebenserwartung steigt stetig.

Ein Arbeitskreis versucht, aus den Daten Schlüsse zu ziehen

Im Landratsamt tagt regelmäßig ein Arbeitskreis, um sich mit den Konsequenzen solcher Erkenntnisse zu befassen. Zu denen gehört, dass Pflegekräfte angeworben werden müssen, weil immer mehr Menschen der Pflege bedürfen, aber der Nachwuchs fehlt. Auch weniger Offenkundiges ist aus den Daten herauszulesen, beispielsweise, dass die Straßen in schlechtem Zustand sind oder ausgebaut werden müssen. Nebenbei offenbart der Bericht, dass praktisch jeder, der fahrfähig ist, ein Auto besitzt. Auf 1000 Einwohner entfallen 795 Kraftfahrzeuge. Das sind gut zehn Prozent mehr als im Landesschnitt.

Die Tendenzen aus der Statistik gelten als unzweifelhaft. Ihre mathematische Richtigkeit jedoch wird vielfach angefochten. Die Basis ist der Zensus aus dem Jahr 2011, eine verknappte Volkszählung. Zur Aktualisierung der Daten wurde damals ein Zehntel aller Haushalte befragt. Unter dem Strich bescheinigten die Mathematiker mehr als drei Viertel der Kommunen einen Einwohnerrückgang. Etliche der Ortschaften protestierten, das Gegenteil sei richtig. Der Kreis Böblingen verlor auf diese Art an einem Tag fast 7000 Einwohner.