Im Januar 1972 ist aus drei Dörfern im Kreis Ludwigsburg Freiberg am Neckar geworden. Dieses Jubiläum feiert die Stadt das ganze Jahr über.

Region: Verena Mayer (ena)

Freiberg - Das Außergewöhnliche ist in Freiberg nichts Besonderes, wie man am Afrikahaus sieht. Das kleine Freiberg am Neckar ist im Besitz einer einzigartigen afrikanischen Kunstsammlung, die aber meist nur dann von sich reden macht, wenn mal wieder ungewiss ist, wie es mit dem sanierungsbedürftigen Haus weitergeht, das die Sammlung beherbergt. Die kleine Stadt ist auch die Heimat eines einmaligen Chinahauses. Aufmerksamkeit hat dieses in den vergangenen Jahren aber meist nur dann erregt, wenn nicht klar war, was mit der Immobilie künftig geschieht.

 

Dazu würde es gut passen, wenn die Stadt in aller Stille altern würde. Also nicht viel Aufhebens darum machte, dass sie nun das Schwabenalter erreicht und damit endlich „gscheid“ wird. Tatsächlich hat es lange Diskussionen über die Frage gegeben, ob man dem 40. Geburtstag überhaupt Beachtung schenken soll. Doch wo sollte man das Erreichen des Schwabenalters feiern, wenn nicht in Freiberg, wo offenkundig vorbildliche Schwaben leben. Bescheiden, fleißig und – mit Verlaub – auch ein bisschen wunderlich. Denn tatsächlich haben die Freiberger in diesem Jahr gleich mehrere Gründe zum Feiern. Unter anderem den, dass sie sich das Feiern nicht verderben ließen.

Bevor Freiberg zu Freiberg wurde, gab es die drei Dörfer Beihingen, Geisingen und Heutingsheim. Sie hatten bei der Gemeindereform Anfang der 70er Jahre die Wahl, von größeren Nachbarstädten geschluckt zu werden oder gemeinsame Sache zu machen. Die Dörfer entschieden sich für die gemeinsame Sache und wurden im Januar 1972 zu Freiberg am Neckar. „Die Gründung kann aus heutiger Sicht rundum als Erfolgsgeschichte gewertet werden“, sagt Dirk Schaible, der Bürgermeister, selbst erst Anfang 40 und Initiator der diesjährigen Geburtstagsfestivitäten.

2003 fiel Freiberg häufig und negativ auf

Am Wochenende ist der Startschuss dafür gefallen. Die Jugendmusikschule hat „Anatevka“ aufgeführt, mit 160 Beteiligten ihre bislang größte Produktion. Eine Woche zuvor gastierte das Musical im Nachbarort Pleidelsheim, der ebenfalls Träger der Schule ist. Dass das Freiberger Geschenk in der Pleidelsheimer Sporthalle ausgepackt wurde, stört die Freiberger aber nicht weiter. „Je öfter es gezeigt wird, desto besser“, sagen sie. Gutmütig, wie sie sein können, wenn sie nicht gerade protestieren.

So wie damals, als es galt, den Altneckar zu retten. Wäre es nach dem Land gegangen, wäre dieser Teil des Neckars in den 70er Jahren zugeschüttet worden mit dem Aushub jener Großbaustelle, die geplant war, um bei Freiberg einen Schiffskanal zu bauen. Doch der massive Protest aus Freiberg und den umliegenden Kommunen hat das Vorhaben verhindert. 1979 wurde der Altneckar dann als Naturschutzgebiet ausgewiesen. Heute ist dieser Abschnitt der letzte natürliche des Flusses im Kreis Ludwigsburg.

Dieselbe Jugendmusikschule, die nun „Anatevka“ aufgeführt hat, bot vor wenigen Jahren übrigens den Anlass für ein ganz anderes Theater. 2003 ist das gewesen – in einer Zeit, in der die Stadt Freiberg so häufig und so negativ auffiel, dass sich viele fragten: „Sind die denn noch gscheid?“ Eine nachvollziehbare Frage, wenn man weiß, dass die Kommunalpolitiker damals allesamt derart zerstritten waren, dass es dem Gemeinderat nicht einmal mehr möglich war, eine Baugenehmigung zu erteilen. Das Theater mit der Musikschule fing an, weil ihr der Pleidelsheimer Bürgermeister die Zuschüsse kürzen wollte.

Badenstreich führte zu unglaublichen Zuständen

Aus Solidarität zog der damalige Freiberger Bürgermeister Ralf Maier-Geißer mit den Betroffenen zu einem Streichkonzert, um dem Amtskollegen den Marsch zu blasen. Dass dieser deshalb stocksauer war, verstand der Chef von Freiberg allerdings nicht. Das taten nur die Freiberger Stadträte. Sie hatten sich schließlich schon oft über ihren Bürgermeister wundern und ärgern müssen. Sei es, weil er despektierlich über Mitarbeiter sprach, sich auf Festen allzu leger gab oder weil er Bewerbungsgespräche mit jungen Frauen auch gern mal in Kneipen bei Cocktails führte.

Heute heißt es, dieser Ralf Maier-Geißer, der so sehr polarisiert hat, habe im schwäbischen Freiberg ja scheitern müssen, weil er aus dem badischen Karlsruhe kam. Doch damals führte dieser, nun ja, Badenstreich zu schier unglaublichen Zuständen. Stadträte nannten sich öffentlich „Drecksack“ und „Heulsuse“, Freiberg wurde als „Affenstall“ bezeichnet – und ein Pfarrer nahm die Stadt sogar in seine Fürbitte auf.

Dabei haben die Freiberger Pfarrer schon viel Außergewöhnlicheres geleistet. Etwa als sie dem Begriff „Kirchenasyl“ eine neue Bedeutung gegeben haben. Weil die katholische Kirche im Jahr 2003 repariert werden musste, haben deren Gottesdienste zwei Monate in der evangelischen Kirche von Heutingsheim stattgefunden. In Freiberg hat die Ökumene eine so lange Tradition, dass deren 40-jähriges Bestehen bereits vor zwei Jahren gefeiert werden konnte. Die Kirchengemeinden leiten eine Hospizgruppe, betreiben ein Schülercafé, gestalten eine ökumenische Woche und feiern Gottesdienste zusammen. Als einer davon vor zwei Jahren auf den katholischen Feiertag Mariä Himmelfahrt fiel, war es der evangelische Pfarrer, der die Predigt hielt.

Freiberg kennt das Problem Ladensterben nicht

Wer zum ersten Mal nach Freiberg kommt, verfällt bestimmt nicht dem Charme der Innenstadt. Das wäre angesichts des vielen Betons wohl etwas viel verlangt. Doch in den 70er Jahren war das die Mode und funktional. Dafür gab es viel Geld vom Land, als Mitgift für die junge Kommune sozusagen. Davon bauten die Stadtväter mit dem legendären Bürgermeister Herbert Schlagenhauf auf einstigen Wiesen und Feldern – und exakt in der geografischen Mitte der drei Ortsteile – ein neues Zentrum mit Schule, Stadthalle, Bücherei, Hallenbad, Arztpraxen, Geschäften und einem Marktplatz. So kommt es, dass Freiberg zwar nicht mit barocken oder mittelalterlichen Reizen glänzt, aber ein Problem immerhin nur vom Hörensagen kennt: Ladensterben. „Freiberg war ein Glücksfall“, sagt Lothar Späth über die Musterkommune im Musterländle bis heute. Er hat die Entwicklung Freibergs maßgeblich gefördert. Erst als Wahlkreisabgeordneter im Landtag, später als Ministerpräsident. Als solcher hat er Freiberg vor – Achtung, noch ein runder Geburtstag – Jahren auch zur Stadt erhoben. Dass er nun beim Vierz’ger nicht fehlen darf, versteht sich von selbst. Im März ist Späth der Ehrengast beim Bürgertag mit Festakt.

Ausgerechnet die Freiberger CDU könnte damit allerdings ein Problem haben. Just Späths Partei war es, die dem Geburtstagskind das Feiern verbieten wollte. „Ich bin und bleibe ein glühender Gegner der Jubiläumsfeier“, polterte Gerald Schweitzer, der der CDU-Fraktion im Gemeinderat vorsitzt. In Zeiten spärlich gefüllter Kassen könne es nicht sein, dass man für einen solchen Anlass Geld ausgebe. Schweitzer sprach von „Zorn und Ärger“, verglich Freiberg gar mit der Titanic, wo die Musik auch beim Untergang noch gespielt habe – und löste damit einen wochenlangen Schlagabtausch im Amtsblatt aus. Fast fühlte man sich an die Streitereien zu Maier-Geißers Zeiten erinnert. Dabei arbeitet der doch längst im Stuttgarter Amt für öffentliche Ordnung.

10.000 Euro darf das Jubiläumsjahr kosten

Naja, letztlich waren die christdemokratischen Räte die Einzigen, die dagegen waren, das Schwabenalter zu feiern. Weniger zornigen Freibergern fiel bei dieser Gelegenheit wieder ein, dass die CDU vor fünf Jahren mit der Feier zum Abschied des damaligen Feuerwehrchefs viel weniger Probleme hatte. Rund 10.000 Euro durfte das Fest für den verdienten Kommandanten damals gerne kosten – der zugleich ein verdientes Mitglied der CDU ist.

Genauso viel haben die Stadträte letztlich für das Jubiläumsjahr genehmigt. Eine Summe, die laut dem Bürgermeister ausreichend ist. „Man muss nicht immer einen Haufen Geld ausgeben, um den Gemeinsinn zu fördern“, sagt Dirk Schaible, der Schwabe, dessen Festkalender fast täglich voller wird. Denn inzwischen beteiligen sich auch Vereine, Einrichtungen und Kirchen an dem Programm, das bis zum Dezember dauert – und die Stadt auf nachgerade untypische Weise von anderen „gscheiden“ Reformkommunen abhebt.

Dabei werden die Freiberger zum Beispiel mal wieder daran erinnert, dass sie zu den Ersten gehörten, die eine Partnerschaft mit einer türkischen Stadt eingingen. Oder daran, dass sie zu den wenigen Kommunen zählen, denen das Land wegen eines uralten Rechts heute immer noch Jahr für Jahr Holz schenken muss, das sogenannte Gerechtigkeitsholz. Gut möglich, dass in diesem Jahr auch das Afrikahaus wieder entdeckt wird und das Chinahaus seinen Teil zur Beglückung der Freiberger beiträgt, die jetzt nicht nur offiziell „gscheid“ sind. Am Ende dieses Jahres sind sie auch „gscheider“ – oder wenigstens die meisten.

Geschichten zum Fest

Alter: Ein 40-Jahr-Jubiläum ist zwar keine so runde Sache wie etwa ein 50. oder 100. Geburtstag. Dass ein Vierz’ger in Baden-Württemberg dennoch oft groß gefeiert wird, liegt an der Überzeugung, dass ein Schwabe mit 40 Jahren „gscheid“ wird. Diese Überzeugung wird auf den Volkskundler Johannes Böhm zurückgeführt. Dieser hat bereits im Jahr 1521 festgestellt und aufgeschrieben: „Sie kapieren spät.“

Reform: Die 1970er Jahre waren die Jahre der Gemeindereform. Durch Eingemeindungen und Fusionen sollte die Zahl der Kommunen im Land von 3379 auf 1110 reduziert werden. Als Erste in der Region fusionierten im Januar 1970 Oberurbach und Unterurbach zu Urbach (Rems-Murr-Kreis). Im Kreis Esslingen waren Hegenlohe und Thomashardt die Vorreiter. Sie wurden im Januar 1971 zu Lichtenwald.

Jubilar: Die meisten Reformkommunen feiern ihren 40., wenn überhaupt, an einem einzigen Abend. Zu Freibergs Geburtstag ist sogar ein Buch erschienen. Aus dem Band „Gscheide Gschichten“ stammen die Fotos auf dieser Seite. Die 40 Texte dazu verfasste die Autorin, die auch diesen Artikel geschrieben hat. ena Weitere Infos im Netz unter www.freiberg-an.de.