So sehr er sich auch müht: die Argumente erreichen die überwältigende Mehrheit seiner Partei nicht. Die meisten sind fassungslos, begreifen Kretschmanns Alleingang als Zäsur in der Geschichte der Partei. Man kann die Gemütslage der Grünen an diesem Freitag gut beobachten auf einem Kongress der Bundestagsfraktion. Die Grünen wollen im Jakob-Kaiser-Haus dem Vorwurf, eine Verbotspartei zu sein, einen „positiven Freiheitsbegriff“ entgegensetzen. Die Veranstaltung ist für sich genommen schon Ausdruck der tiefen Verunsicherung, die diese nach Orientierung suchende Partei überwinden will. Das Bundesratsvotum, das manche hier eine „Blut-Kretsche“ nennen, macht diesen Selbstfindungsprozess gewiss nicht leichter. Als der Blogger Sascha Lobo, der etwas über Freiheit im digitalen Zeitalter erzählen soll, die Entscheidung als „faulen Asylkompromiss“ geißelt, klatschen fast alle im Saal. Die grimmige Empörung, die sich Bahn bricht, lässt einen spüren, dass viele Grüne in Kretschmann keinen der ihren mehr erkennen können. Dabei war die Gefechtslage aus grüner Sicht glasklar wie zuletzt selten. Am Donnerstagabend hatte der Parteirat einstimmig das Kompromissangebot von Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) abgelehnt. In dem Beschluss heißt es, die Regelung löse „keines der Probleme der deutschen Flüchtlingspolitik“. Es sei „zynisch, wenn Union und SPD die Asylsuchenden aus dem westlichen Balkan für die Situation in den Kommunen verantwortlich machen“. Die Grünen haben mit dem Konstrukt der angeblich sicheren Herkunftsländer außerdem ein generelles Problem, weil es das individuelle Grundrecht auf politisches Asyl aushöhle. Allerdings gesteht der Beschluss den Ländern mit grüner Regierungsbeteiligung ausdrücklich eine abweichende Position zu.

 

Zu wenig grüne Handschrift?

In Berliner Fraktionskreisen heißt es jetzt, Kretschmann habe viel zu früh das Handtuch geworfen. Man verstehe ja, dass er als Ministerpräsident großem Druck ausgesetzt gewesen sei und dass er dem Vorwurf, seine Kommunen im Stich zu lassen, etwas entgegensetzen müsse. Deshalb sei vielen Kritikern auch klar gewesen, dass Kretschmann in einem Vermittlungsverfahren irgendwann wohl hätte einschlagen müssen. Aber der jetzt gefundene Kompromiss trage zu wenig die grüne Handschrift. Wenn wenigsten die Gesundheitsfürsorge im Asylbewerberleistungsgesetz entscheidend verbessert worden wäre, wäre eine Einigung für die Partei leichter zu verkraften gewesen, heißt es.

So aber muss sich Kretschmann wie ein Ausgestoßener fühlen. Nur Parteichef und Landsmann Cem Özdemir zeigt am Rande des Kongresses verhalten Verständnis für Kretschmann, der doch beachtliche Zugeständnisse erreicht habe. Dumm nur, dass der umstrittene Özdemir derzeit kaum eine Stütze sein kann, weil er genug damit zu tun hat, sich selbst zu stützen. Und so überwiegen an diesem Tag bei den Grünen die drastischen Urteile. Die Fraktionschefs Anton Hofreiter und Katrin Göring-Eckardt sind empört.

Letztlich ist es aber der innenpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Volker Beck, der die Stimmung auf den Punkt bringt. Winfried Kretschmann habe „das Menschenrecht auf Asyl für’n Appel und ’n Ei verdealt“, kritisiert Beck. Für einen Grünen ist ein solches Urteil nicht nur ein Schuldspruch. Es ist Höchststrafe zugleich. Und zwar ohne Bewährung.