Seit dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine am 20. Februar 2014 sind an diesem Donnerstag 3549 Tage vergangen. Die im August begonnene Gegenoffensive ist in die Stellungen der russischen Besatzer eingebrochen, deren Front wurde jedoch nicht durchbrochen.

Seit Anfang Oktober zeichnet es sich ab: An der etwa 800 Kilometer langen Front im Osten und Süden der Ukraine bewegt sich nur noch wenig. Die im August begonnene ukrainische Gegenoffensive wurde zum blutigen Kampf der Infanterie in den Schützengräben der russischen Besatzer. Vor allem in drei Regionen wird gekämpft: Im Bereich südlich der 15 000 Einwohner zählenden Stadt Orichiw; rund um die Stadt Awdijiwka, in der einst 32 500 Menschen lebten. Und westlich und südlich der Stadt Bachmut, die einmal 73 500 Menschen Heimat war. Entlang der Front fallen die Temperaturen, friert es nachts bereits: Der zehnte Winter seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine am 20. Februar 2014 fängt an, nach jetzt 3549 Tagen Krieg.

 

Eine 800 Kilometer lange Frontlinie Foto: STZN/Bodo Zapletal

Wie wurde die ukrainische Offensive von den Russen gestoppt?

Dem ukrainischen Heer gelang im August beim Dorf Robotyne der Einbruch in das über die gesamte 800 Kilometer lange Front angelegte russische Stellungssystem. Dieses besteht aus drei etwa 40 Kilometer tiefen Netzwerken aus Panzersperren, miteinander verbunden Schützengräben und Tunneln. Russland stoppte die Offensive, indem es eilig aus Russland mit den Garde-Luftlandedivisionen 7 und 76 Eliteverbände heranführte. Zudem marschierten die 19. und 42. Mechanisierte Infanteriedivision, strategische Reserven, bis Anfang November außerdem fünf neu aufgestellte Regimenter von im August einberufenen russischen Reservisten sowie die Söldner „Wölfe des Zaren“ des Ex-Direktors der russischen Weltraumorganisation Roskosmos, Dimitri Rogosin, in diesem Raum auf.

Was war das strategische Ziel der ukrainischen Sommeroffensive?

Ziel des ukrainischen Generalstabschefs Walerij Saluschny war es, die russische Verteidigung zu durchbrechen, die Städte Tokmak und Melitopol zu erobern und so die wichtigsten russischen Nachschublager und -linien auf der 2014 von Russland besetzten Krim unter Beschuss nehmen zu können. Dieses Ziel, sagte Saluschny jetzt in einem Gespräch mit dem US-Magazin „The Economist“, sei nicht erreicht worden.

Warum ist die besetzte Krim für Russland so wichtig?

Seit Russland die Halbinsel im Schwarzen Meer im Februar 2014 besetzte, wurde die Krim zu der Nachschubbasis Russlands für den aktuellen, seit Februar 2022 andauernden Angriff auf die Ukraine ausgebaut. Vor allem deshalb wurde die Krim über Land durch eine bei Kertsch gebaute Brücke mit dem russischen Festland verbunden. Nahezu der gesamte Nachschub für acht russische Armeen und vier Armeekorps,200 000 Mann, werden über die Halbinsel abgewickelt. Das geschieht vor allem deshalb, weil die Eisenbahnstrecken und leistungsfähigen Straßen im der Süden der Ukraine rund um die Hafenstadt Mariupol weitgehend zerstört sind und zudem in Reichweite der ukrainischen Artillerie liegen. Das ukrainische Mariupol wurde am 20. Mai 2022 von seinen Belagerern erobert. Die russische Logistik auf der Krim versucht Saluschny verzweifelt seit Monaten mit Luft- und Drohnenangriffen zu unterbrechen. Über weitreichende Waffensysteme, mit denen er dies tun könnte, verfügt die Ukraine nicht. Gerade die Bundesregierung zaudert, dafür den Marschflugkörper Taurus bereitzustellen.

Was macht die Ukraine mit den aus dem Westen gelieferten Waffen?

Gerade zu Beginn ihrer Gegenoffensive verlor die Ukraine massiv aus dem Westen gelieferte Waffensysteme: Von den insgesamt aus Deutschland gelieferten 20 Kampfpanzern Leopard 2A6 wurden zehn zerstört oder erheblich beschädigt, von den 60 Schützenpanzern Mardern 1A3 vier. Zudem verlor die Ukraine von den etwa 200 aus den USA gelieferten Schützenpanzern Bradley 55, von den 61 aus Europa gelieferten Leopard 2A4 und 2A5 verlor die Ukraine bislang elf. Zwei Gründe sind für die Verluste vor allem verantwortlich: Zum einen hatten die ukrainischen Kommandeure vor den Angriffen zu wenig mit Pionieren die Maße der ausgedehnten russischen Minenfelder erkundet. Zum zweiten wird deutlich, dass die Ausbildung der ukrainischen Besatzungen auf den komplexen Waffensystemen im Westen zu kurz ist, um die Panzer unter Gefechtsbedingungen bedienen zu können.

Wie hoch sind die russischen Verluste?

Russlands Verluste sind immens. Mindestens 2015 Kampf-, 3698 Schützenpanzer und 999 Artilleriesysteme haben die russischen Bodentruppen seit dem Beginn der aktuellen Offensive am 24. Februar 2022 bis zum Ende dieses Oktober verloren – wertete eine internationaler Journalisten unabhängig aus. Aber: Nach dieser Analyse verlor Russland nur 2761 Nachschub-Lastwagen. Unvorstellbare 150 000 bis 190 000 tote und dauerhaft verletzte russische Soldaten schätzte das britische Verteidigungsministerium am 22. Oktober. Insgesamt seien weitere 100 000 Soldaten verletzt worden. Die immensen Verluste unter den Söldnern der Wagner-Gruppe sind darin nicht eingerechnet.

Wie geht es in der Ukraine jetzt weiter?

Auch im kommenden Winter wird erbittert weitergekämpft werden. Vor allem in den russischen Stellungs- und Tunnelsystemen rund um Robotyne, aber auch in den befestigten Dörfern und Städten Awdijiwka und Bachmut werden die Gefechte unerbittlich weitergehen. Die russischen Kommandeure werden die frostfreie Zeit bis zum Frühjahr zudem nutzen, um weitere Stellungssysteme und Minenfelder anzulegen, ihre Nachschubbasen auf der Krim auszubauen und durch Flugabwehrsysteme weiträumig zu schützen.