Die Opfer des russischen Angriffs auf die Ukraine sind in den Straßen der Städte angekommen: Kriegsversehrte. Sie treffen auf eine Gesellschaft, die nicht weiß, wie sie mit ihren Veteranen umgehen soll.

Sechs Meter hoch ist die Beschützerin der Nation. Sie trägt eine ukrainische Tracht und ist eine Mischung aus der christlichen Jungfrau Maria und einer slawischen Gottheit: Berehynja, golden in der Sonne strahlend, schreitet sie auf einer korinthischen Säule. Italienischer Marmor, 38 Meter hoch. Einen Zweig Kalyna, gemeinen Schneeball, hält sie in der Hand. Dessen rote Beeren sind seit 1914 das Nationalsymbol der Ukraine.

 

Einen Steinwurf entfernt flattern zahllose, blau gelbe Fähnchen im Lineal-hohen Gras. Eines für jedes ukrainische Leben, das Russen seit dem 24. Februar 2022 ausgelöscht haben, seit die Soldateska des Diktators Wladimir Putin ihre Finger nach dem ganzen Land ausstreckten. Berehynja und Fahnenmeer prägen den Majdan Nesaleschnosti, das Zentrum der ukrainischen Hauptstadt. Majdan - von Alters her das ukrainische Wort für Platz. Im Herzen Kiews trennen fünf Stufen und 81 Schritte die Freiheit vom Tod .

Die zu gehen fällt Harlekin schwer: Trotz seiner ein Meter neunzig und breiten Schultern. Streichholzkurzen Haare. Das Wappen der 93. Panzergrenadierbrigade auf seiner Fleecejacke: weiß und schwarz, ein Schwingen hebender Adler, ein Viertel Kranz Eichenblättern. Das rechte Hosenbein seiner beigefarbener Cargohose hat Harlekin da umgeschlagen, wo bei anderen Menschen das Knie ist: „Russischer Drohnenangriff. Knie und Unterschenkel zertrümmert. Musste ab, sonst wäre ich krepiert.“ Viele Worte macht der frühere Mathematik- und Physiklehrer nicht mehr.

30 000 Frauen und Männer gelten für das ukrainische Gesundheitsministerium als kriegsversehrt. Sind also auf Prothesen angewiesen, um ihren Alltag zu meistern. Die genaue Zahl wird ebenso zurückgehalten wie die der Kriegstoten. Aber: 240 Millionen Euro hat die Regierung alleine für den Zeitraum 2022 bis Dezember 2024 vorgesehen, um Prothesen für Veteranen anzuschaffen – es wird nicht genug sein. Die äußerlich Verletzten gehören im zehnten Kriegsjahr zu den Straßenbildern von Städten und Dörfern; die seelisch Verwundeten nicht.

Äußerlich fehlt Harlekin das rechte Bein. Nichts, was eine moderne Prothese nicht erträglicher machen könnte. „Jede Nacht schlagen Granaten um mich ein. Stürmen Russen auf mich zu. Krepieren meine Kameraden“, sagt er mit leiser Stimme. Die Rechte presst sich in die Linke, dass sich die Knöchel weiß wie frisch gefallener Schnee färben.

Lustig ist am Harlekin nur noch sein Spitzname. Seine Schüler haben ihm den verpasst. Als er sie vor zwei Wintern noch mit schelmischem Lächeln ausrechnen ließ, in welchem Winkel Ronaldo seine Freistöße schießen sollte, um ein Tor zu schießen. „Es gab Mathestunden, da haben wir uns über seine Witze vor Lachen nur die Tränen aus den Augen gewischt“, erzählt ein früherer Schüler.

Bis Harlekin in den Krieg zog. Weil in den Vororten die Russen die Menschen abschlachteten: mit auf den Rücken gefesselten Händen. Hinterrücks Alte auf Fahrrädern erschossen, neben deren Einkaufstüten und Leichen ihre Hunde wachten. „Dafür war ich nicht 2013 auf dem Maidan und habe für unsere Freiheit gekämpft“.

In jenem Dezember stemmten sich die Menschen in der Ukraine gegen ihr damaliges Staatsoberhaupt. Wiktor Janukowitsch, der russische Kleinkriminelle aus Donezk. Aus dem ganzen Land strömte das Volk auf dem Maidan zusammen. Forderte Demokratie, eine offene Gesellschaft. Putins Mann in Kiew ließ schießen: 107 Menschen bezahlten den Freiheitskampf mit dem Leben. Der Jüngste 17, der Älteste 73. Ungezählte wurden verwundet, auch Harlekin.

Damals machte ihn der Schuss in den Arm zum Helden. „Mein Knie macht mich zum Krüppel“, sagt er. Sachlich, als würde er über binomische Formeln referieren. Seitdem vor 3744 Tagen am 22. Februar 2014 Russland das Nachbarland überfiel, hat die Ukraine ein Problem: Wie integriere wir unsere Veteranen, wie geht eine starke Zivilgesellschaft mit ihren Kriegsversehrten um?

Eine Frage, die sich 1900 Straßenkilometer vom Kiewer Majdan auch Bernhard Straub und Markus Lux in Stuttgart stellen. Der eine Geschäftsführer der Robert Bosch Stiftung, der andere Bereichsleiter für Globale Fragen und seit Jahrzehnten auch mit dem beschäftigt, was in der Ukraine vorgeht. Zunächst half die Stiftung klassisch, mit 4,5 Millionen Euro die größte Not nach dem Beginn der aktuellen Offensive zu lindern. Seit vergangenem Herbst unterstützt sie mit einem neuen Konzept.

„Wir unterstützen – auch aus dem Selbstverständnis und der Tradition der Stiftung heraus – zivilgesellschaftliche Akteure in der Ukraine. In unserem Fokus stand seit der Unabhängigkeit der Ukraine 1992 und steht jetzt wieder, den einzelnen Menschen so zu stärken, dass er aktiv an der Gesellschaft teilhaben kann“, sagt Straub. Mehr als 40 Projekte zum gesellschaftlichen Wiederaufbau der Ukraine förderte die Stiftung 2023 mit 4 Millionen Euro. Von Elterninitiativen über Stadtplaner bis zu Künstlern und Intellektuellen: Ohne dabei auf westliche Blaupausen zurückzugreifen und zu bevormunden will die Stiftung die Menschen darin stärken, ihre Diskussionen zu moderieren, die Gesellschaft zu vernetzen.

Auch bei der Integration kriegsversehrter Veteranen. „Es geht ja um deutlich mehr als um barrierefreie Zugänge zu Gebäuden. Wie geht eine Gesellschaft mit Versehrten um, wie integriert sie sie in den Alltag? Wohlgemerkt in einer Gesellschaft, die keine Generation nach dem Ende des Kommunismus in den Krieg ging“, ergänzt Osteuropa-Historiker Markus Lux. Mit Stipendien unterstützt die Stiftung jeweils drei bis zwölf Monate lang Menschen, ihre Ideen für eine starke Gesellschaft zu entwickeln und umzusetzen. Auch für den Umgang mit Kriegsversehrten und Behinderten.

Wie sie am Leben der Gesellschaftliche wieder teilhaben können, „spielt bei der Reintegration von Veteranen eine zentrale Rolle“, sagt Uljana Ptscholkina. Ihre Gruppe „Aktive Rehabilitation“ hatte sich einst zum Ziel gesetzt, das Alltagsleben von Rollstuhlfahrern zu erleichtern. Seit 2022 ist die Re-Integration verwundeter Soldaten in die Gesellschaft hinzugekommen.

„Wir stehen vor einer Herkulesaufgabe“, sagt Ministerin Oleksandra Azarkhina, in Präsident Selenskyjs Kabinett für den Wiederaufbau des geschundenen Landes verantwortlich. Im Moment könne man noch gar nicht absehen, vor welchen Herausforderungen das Land bei der Wiedereingliederung von Veteranen in die Zivilgesellschaft stehe.

Von Menschen wie Harlekin. Der sich nicht mehr vor seine Klasse traut. Der in vielen Nächten den Schützengraben durchträumt. Wieder und wieder und wieder. Wie Granaten einschlagen, seine Kameraden zerfetzen. Der deshalb nicht schlafen will und oft auch nicht kann. Der sich schämt: „Wie will ich Ronaldo Freistöße schießen lassen, wenn mir ein Bein fehlt.“ Er wischt die Träne weg, die sich ihren Weg zum Kinn bahnt. Blinzelt zur Berehynja hinauf. Die 81 Schritte vom Tod zur Freiheit sind heute viel zu viele für ihn.