Die von den Vereinten Nationen vermittelte Waffenruhe für die umkämpfte jemenitische Hafenstadt Hudaida ist ein Fortschritt. Dennoch sieht der Generalsekretär von Care Deutschland, Karl-Otto Zentel, Millionen Menschen durch die Hungersnot im Bürgerkriegsland in Gefahr.
Stuttgart - Zur Überwachung der Waffenruhe ist der Leiter eines UN-Teams im Bürgerkriegsland Jemen eingetroffen. Unter Vermittlung der Vereinten Nationen hatten sich die Konfliktparteien auf eine Feuerpause vom 18. Dezember an für die lange heftig umkämpfte Hafenstadt Hudaida geeinigt. Die Stadt am Roten Meer ist für die Versorgung von zentraler Bedeutung. Am Freitag hatte der UN-Sicherheitsrat die Beobachtermission unter dem früheren niederländischen General Patrick Cammaert beschlossen. Das Auswärtige Amt in Berlin sieht darin einen „wichtigen Meilenstein“ zur Umsetzung der in Schweden getroffenen Vereinbarungen der Konfliktparteien. Der Care-Generalsekretär Zentel, der das geschundene Land zuletzt Anfang Oktober bereist hat, zeigt sich dennoch sehr pessimistisch.
Herr Zentel, wie kommt Ihnen die heile Weihnachtswelt hierzulande vor, wenn Sie an den Jemen denken?
Wie ein anderer Planet. Hier der Wohlstand und die Freiheit – dort die zusammengebrochene Infrastruktur und das nackte Elend. Zumindest in Aden und Sanaa haben internationale Mitarbeiter von Care nur sehr wenig Bewegungsraum – dort verlässt man aus Furcht vor Entführungen oder neuen Bomben das Auto im Grunde nur, um ein Gebäude zu betreten. Im Norden sind die Geodaten unsere Büros zudem der internationalen Koalition gemeldet, um zu verhindern, dass diese Standorte bombardiert werden.
Welche Bilder gehen Ihnen durch den Kopf, wenn sie an Ihre jüngste Reise denken?
Einerseits eine wahnsinnig schöne Landschaft mit den terrassierten Hängen und der romantischen Bauweise in den Dörfern. Andererseits sehe ich Menschen vor mir, die im Nirgendwo gestrandet sind, weil die Hilfsorganisationen den Bedarf nicht mehr decken können. Es herrscht eine große Verzweiflung, weil nichts mehr da ist. Die Hoffnung, dass es besser wird, stirbt allmählich. Selbst den jemenitischen Kollegen setzt es zu, dass sie Tag und Nacht arbeiten können, die Situation sich aber weiter verschlechtert. Die fehlenden Nahrungsmittel, das kollabierte medizinische System, keine Schulen, keine Gehälter – das sind die Hauptprobleme. In einigen Teilen des Landes verhungern jeden Tag Menschen. Zuerst trifft die Kinder, weil sie die geringsten Reserven haben. Und dann oft auch Frauen, die durch Kinder stärkeren Belastungen ausgesetzt sind.
Wie können Sie angesichts der Kämpfe im Jemen arbeiten?
Die Genehmigungen brauchen endlos lange – das dauert manchmal Monate. Dann die Sicherheitslage: Wir müssen jede Bewegung anmelden. Auch wenn wir eine Verteilung machen, kündigen wir Zeit und Ort über die UN bei der internationalen Koalition an, um sicherzustellen, dass dieser Ort an diesem Tag nicht bombardiert wird. Vermehrt kommt da der Hinweis: Das können wir euch nicht zusagen. An solchen Tagen können wir die geplante Verteilung dann nicht durchführen.
Wie kann es den Hilfsorganisationen gelingen, weitere Hilfe ins Land zu bringen?
Der Jemen hat immer schon 90 Prozent seiner Nahrungsmittel importieren müssen. So kommen die Güter über die Häfen ins Land, wenn auch viel zu wenig. Bei Millionen von Menschen können durch humanitäre Hilfe eben nur 80 Prozent des Kalorienbedarfs abgedeckt werden – es ist eine langsame Auszehrung. Deswegen braucht es viel mehr an kommerziellen Gütern. Die Kämpfe um die große Hafenanlage von Hudaida hatten die Zahl der anlegenden Schiffe verringert und die Dauer der Entladung verlangsamt. Der Waffenstillstand am Hafen seit dem 18. Dezember ist eine tolle Sache – aber er kann nur der erste Schritt sein. Denn selbst wenn nicht gekämpft wird, kommt kein Gramm Nahrungsmittel mehr ins Land, dann verhungern immer noch Menschen.
Fließen ausreichend internationale Gelder in das Land?
Die staatliche Unterstützung für den Jemen war im abgelaufenen Jahr sehr gut, verglichen mit anderen Krisen. Es war aber noch nicht ausreichend. Mit steigenden Temperaturen werden wir wieder in großer Zahl Cholerafälle haben, solange nicht mehr in Wasserversorgung und Hygiene investiert wird. Für 2018 hatten die Vereinten Nationen knapp drei Milliarden US-Dollar gefordert – von denen 81 Prozent kamen. Für 2019 rechnen die UN mit Kosten von vier Milliarden US-Dollar. Der humanitäre Bedarf wächst von Jahr zu Jahr.
Die Anteilnahme der Deutschen scheint nicht groß zu sein, wenn man an die relativ geringe Spendenbereitschaft denkt?
Die Spendenbereitschaft ist oft ereignisgebunden. Als wir 2017 den großen Choleraausbruch hatten, wurde gespendet. Jeder Konflikt wirft die Frage nach dem Schuldigen auf. Hier ist von außen kaum nachzuvollziehen, wer die Guten und die Bösen sind. Meiner Meinung nach gibt es hier nur Böse, die da aktiv an den Kämpfen teilnehmen. Das bremst die Spendenbereitschaft der Bevölkerung. Zudem wird sehr wenig über den Krieg berichtet, weil es nur sehr wenige Bilder aus dem Land gibt. Der Jemen ist nicht offen – auch wir haben keine Visa für Journalisten erhalten.
Spüren Sie bei der Politik einen Druck, die Verhältnisse zu verändern?
Die Tatsache, dass die westliche Welt nicht mal in der Lage ist, ein Waffenembargo gegen die hauptverantwortlichen Länder zu verhängen, ist beschämend und ein Armutszeugnis. Dies wäre zumindest mal ein Signal. Da stehen offenbar wirtschaftliche vor humanitären Interessen. Der humanitäre Bedarf kostet wahrscheinlich mehr, als an den Waffen verdient wird.
Welche Perspektive geben Sie dem Land?
Der Jemen ist sehr sehr weit von Aussöhnung entfernt. Die Lage ist hochkompliziert. Es gibt viele Interessengruppen, die in einen Friedensprozess eingebunden werden müssen. Ich kann nur hoffen, dass zumindest die Versorgung besser wird und das Sterben verringert werden kann. Ich bin aber auch sehr pessimistisch. Von 20 Millionen hungernden Menschen befinden sich zehn Millionen in einem extrem kritischen Zustand, und etwa 250 000 sind akut vom Tode bedroht – gerade dort, wo Kampfhandlungen herrschen.
Eine Fluchtwelle ist aber nicht erkennbar?
Die Menschen haben keine Möglichkeiten, das Land zu verlassen. Die Flughäfen sind praktisch zu. Das Meer wird durch die internationale Koalition kontrolliert –gegenüber liegen Somalia und Eritrea. Und nach Saudi-Arabien ist die Landgrenze dicht. Die Menschen sitzen in der Falle.