Es ist die gefährlichste Krise seit Ende des Kalten Krieges. Dennoch glauben viele Experten, dass Russlands Präsident Putin an einem Krieg mit der Ukraine nicht interessiert ist. Seine schrillen Töne seien vor allem ein innenpolitisches Signal.

Moskau - Am Montag wollte Julia Timoschenko nach Moskau kommen, um dort über die Beilegung der Krim-Krise zu verhandeln. So jedenfalls hatten das russische Medien unter Berufung auf die ukrainische Agentur UNN vermeldet. Voller Hoffnung: Die Krim-Krise ist aus Sicht russischer Experten die gefährlichste seit Ende des Kalten Krieges. Am Samstag hatte der russische Senat Präsident Wladimir Putin das Mandat für einen Truppeneinsatz in der Ukraine erteilt. Einstimmig. Demzufolge soll ein „begrenztes Kontingent“ russische Bürger schützen, bis sich „die politische Situation stabilisiert hat“, hieß es.

 

Putin ließ sich dabei allerdings eine Hintertür offen. Um den Einsatz von Truppen auf der Krim zu vermeiden, müsste sich die Lage dort entspannen und „die Gefahr für Russen abnehmen“ , sagte der Kremlsprecher Dmitri Peskow. Der Senat habe Putin das Mandat für den Einsatz erteilt, es sei jedoch Sache des Präsidenten darüber zu entscheiden, ob er es wahrnimmt. Er entscheide auch über Zeitpunkt, Umfang und Art des Einsatzes. „Wir hoffen, dass sich die Situation zum Besseren wendet“, sagte der Sprecher.

Timoschenko hat kaum Chancen bei den Präsidentschaftswahlen

Das hängt derzeit vor allem von den Ergebnissen der Konsultationen mit Julia Timoschenko ab. Beobachter sind zuversichtlich. Die pro-europäischen Protestler auf dem Kiewer Maidan, sagte der Politikwissenschaftler Stanislaw Belkowski vom Moskauer Institut für Nationale Strategien, hätten Timoschenko nach ihrer Freilassung vor knapp einer Woche einen kühlen Empfang bereitet: Sie würden den alten Eliten generell misstrauen und die Macht neuen, unverbrauchten Politikern anvertrauen wollen. Bei den Präsidentenwahlen Ende Mai hätte Timoschenko daher nur geringe Siegeschancen. Das würde sich jedoch schlagartig ändern, wenn sie sich mit Putin über einen tragfähigen Kompromiss zur Beilegung der Krim-Krise einigt, sagte der Politologe. Beide Seiten müssten dabei Federn lassen.

Für Putin hätte eine derartige Lösung zwei gute Seiten. Mit Timoschenko würde in der Ukraine eine Präsidentin die Macht übernehmen, die – trotz aller pro-westlicher Rhetorik – auf russische Interessen Rücksicht nehmen müsste. So wie 2009, als beide Politiker einen Kompromiss zu russischen Gaslieferungen aushandelten, von dem vor allem Moskau profitierte. Julia Timoschenko, damals Regierungschefin, kassierte dafür eine siebenjährige Haftstrafe.

Kein Interesse an Militär in der Ukraine

Hinzu kommt, dass auch Putin, wie die Mehrheit russischer Experten glaubt, an einem Waffengang mit der Ukraine nicht interessiert ist. Dafür spricht vor allem die Tatsache, dass bisher keine Truppen in die Ukraine verlegt wurden und offenbar auch noch keine konkreten Vorbereitungen dazu laufen. Derzeit, sagte der Vizeaußenminister Grigori Karassin, werde weder über die mögliche Personalstärke noch über die beteiligten Waffengattungen gesprochen. Russland, sagte auch Regierungschef Dmitri Medwedew am Samstag in einem Telefongespräch mit seinem ukrainischen Amtskollegen Arseni Jazenjuk, sei an der Beibehaltung „stabiler und freundschaftlicher Beziehungen mit der Ukraine“ interessiert.

Die schrillen Töne Putins, meinte Alexei Malaschenko vom Moskauer Carnegie-Zentrum, seien vor allem ein innenpolitisches Signal. Der Kreml wolle Stärke demonstrieren und zeigen, dass in Russland eine Revolution wie in der Ukraine keine Chancen hat. Putin wisse sehr wohl, dass mit einem Militäreinsatz in der Ukraine – auch einem begrenzten wie 1979 beim Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan – für den Westen die rote Linie überschritten sei. Zwar interessiere den Kremlchef die Meinung des Westens nicht sonderlich, wohl aber fürchte er die politische und wirtschaftliche Isolation, die Russland nach einem Einmarsch in die Ukraine drohte.

Das hatte ihm auch US-Präsident Obama in einem Telefonat klar gemacht (siehe unten stehenden Text). Die Vorbereitungen für den G-8-Gipfel im Juni in Sotschi, so Obama, habe Washington bereits ausgesetzt. Putin zeigte sich unbeeindruckt. Im Falle einer Ausweitung der Gewalt, für die er „verbrecherische Aktivitäten von Ultranationalisten“ verantwortlich macht, die von den neuen Machthabern in Kiew ermuntert werden, behalte Moskau sich das Recht vor, seine Interessen und die Interessen der russischsprachigen Einwohner zu schützen, fasste der Kreml-Pressedienst die Ergebnisse des Telefonats zusammen.

Krim-Ministerpräsident bittet um Hilfe

Gemeint waren nicht nur die Entwicklungen auf der halbautonomen Schwarzmeer-Halbinsel Krim, wo ethnische Russen knapp 60 Prozent der Gesamtbevölkerung stellen. Am Samstag hatte der Krim-Ministerpräsident Sergei Aksjonow Moskau offiziell um Hilfe gebeten. Bewaffnete aus Kiew versuchten, das Innenministerium in Simferopol zu besetzen. So stellten es jedenfalls Moskau und die Krim-Regierung dar. Kiew behauptet, bei den Bewaffneten habe es sich um Angehörige der auf der Krim stationierten russischen Schwarzmeerflotte gehandelt und um jene 2000 Mann, die Moskau bereits am Freitagabend – vor der Genehmigung des Einsatzes durch den Senat – auf die Krim entsandt hatte.

Staatsnahe russische Medien berichteten über pro-russische Großkundgebungen in Regionen mit überwiegend russischsprachiger Bevölkerung. Charkow und Donezk erwägen Volksentscheide über mehr Autonomierechte. Gouverneure der südrussischen Regionen fordern derweil Hilfe bei der Versorgung von Flüchtlingen aus der Ukraine. Nach Meldungen des Staatsfernsehens suchten in Russland bisher 143 000 Menschen Zuflucht vor „Willkür und Gesetzlosigkeit“.

Seit der Änderung der Militärdoktrin kann Russland seine Armee im Ausland leichter einsetzen

Memorandum Im Budapester Memorandum haben die USA, Großbritannien und Russland die Unabhängigkeit der Ukraine garantiert – im Gegenzug für Kiews Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag. Das Dokument wurde am 5. Dezember 1994 am Rande des KSZE-Gipfels in Budapest unterzeichnet. Die Ukraine erhoffte sich einen besseren Schutz vor möglichen Gebietsansprüchen. Schon damals waren in Russland immer wieder Rufe laut geworden, die Ukraine solle die 1954 erhaltene Krim zurückgeben.

Konflikt Die Entwicklung auf der ukrainischen Halbinsel Krim erinnert an den Konflikt zwischen Russland und Georgien, der 2008 zum Krieg im Südkaukasus führte. Das an Russland grenzende Südossetien hatte sich 1990 von Georgien abgespalten. Auf bewaffnete Auseinandersetzungen folgte 1994 eine brüchige Waffenruhe. Nach dem Einmarsch georgischer Truppen im August 2008 begann eine russische Offensive zum Schutz eigener Bürger.

Georgien Im Zuge des Krieges verlor Georgien die Kontrolle über die Region Abchasien am Schwarzen Meer, die sich ebenfalls von der Zentralregierung losgesagt hatte. Die Georgier mussten sich zurückziehen, und die weitgehend von Russland abhängigen Gebiete erklärten ihre Souveränität. Moskau erkennt Südossetien und Abchasien als Staaten an, die Europäische Union und die USA betrachten sie hingegen als Teile Georgiens.

Militärdoktrin Die Änderung der russischen Militärdoktrin 2010 war eine Folge des Südkaukasus-Krieges. Sie erlaubt Moskau seither den Einsatz von Streitkräften im Ausland zum Schutz eigener Bürger. Russland kann seine Armee nun im Ausland leichter einsetzen als zuvor. Früher waren Selbstverteidigung, Anti-Terror-Kampf oder das Erfüllen internationaler Vereinbarungen zwingend dafür.

Krim Auf der Halbinsel Krim leben viele Russen. Und auch die Schwarzmeerflotte ist per Pachtvertrag zwischen Moskau und Kiew noch bis 2042 auf dem autonomen Gebiet stationiert.