Mord verjährt nicht. Die Sonderkommission wurde aufgelöst, der Fall kam zu den Akten. In Stuttgart sind seit dem Krieg 63 ungeklärte Mordfälle anhängig. Bei vielen von ihnen ist nichts mehr da außer ein paar vergilbte Papiere. Im Fall Aichele gibt es mehr 50 Asservate, die bei den Ermittlungen sichergestellt und konserviert wurden.

Wochenlange Kleinarbeit


Hans-Peter Schühlen, der Kellerkommissar, hat sie sich vorgenommen. Noch ein gutes Jahr hat er bis zu seiner Pension, aber langsamer macht er deswegen nicht. In wochenlanger Kleinarbeit sichtete Schühlen die Überbleibsel, teilte sie in Prioritätsstufen ein und verabredete sich mit Werner Pflug vom Landeskriminalamt in Stuttgart.

Mit seinem hochspezialisierten Team filtert der Molekularbiologe in aufwendigen Verfahren aus kleinsten Hautabriebsspuren den unverwechselbaren DNA-Code eines Menschen heraus. Die Abteilung trägt nicht selten dazu bei, dass Gewalttäter gefunden werden, auch solche, die sich seit Jahrzehnten in Sicherheit wähnen. "Wenn mir in den achtziger Jahren jemand gesagt hätte, was heute möglich ist, hätte ich ihn für verrückt erklärt", sagt Pflug. "Ich hätte das für Science-Fiction gehalten."

Immer wieder nahmen sich die Experten im Fall Aichele die Fundstücke vor, kreisten ein, wo der Täter Antragungen hinterlassen haben könnte. Gesucht wurden winzigste Hautabriebsspuren. Über die Erbgutanalysen lassen sich Informationen gewinnen, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nur einer Person zuzuordnen sind. Die Kunst besteht darin, aus vielen Antragungen etwa an Textilien jene Spur zu gewinnen, die zum Täter führt. Oft haben Dutzende Spurenleger ihre Hautschuppen hinterlassen, von Verwandten des Opfers bis hin zu Kriminaltechnikern.

Die Schlinge wird enger


Auf dem Feld der Typisierung von Hautschuppen hat Pflugs Team Pionierarbeit geleistet. Viele Polizeidirektionen lassen dort Asservate untersuchen. Seit der Gründung der bundesweiten DNA-Datei im April 1998 sind allein aus dem Südwesten 8162 Treffer gemeldet worden. In der Datei sind aus Baden-Württemberg 105785 Personendaten und 13131 Spurendaten vermerkt.

Auch im Fall Aichele meldeten die Wissenschaftler eine tatrelevante Spur. "Vor acht Jahren wäre dies noch nicht denkbar gewesen", sagt Kriminalhauptkommissar Schühlen. Mit dieser Spur lässt sich arbeiten. Der Täter ist allerdings nicht in einer Kriminaldatei gelistet, das heißt, er ist bisher nicht durch andere Verbrechen aufgefallen. Vor diesem Hintergrund hat die Polizei in den vergangenen Monaten mehr als 500 Männer zum freiwilligen Speicheltest gebeten, selbst die früheren Personenschützer von Gerhard Mayer-Vorfelder, der nicht weit vom Tatort entfernt wohnt, wurden einbezogen. Die Ermittlungen dauern an.

Schühlen hat sich mit seinen Kollegen eine Taktik zurechtgelegt, über die er aus nachvollziehbaren Gründen schweigt. Nur so viel ist klar: die Schlinge wird enger. Zum ersten Mal spüren die Aicheles eine vage Hoffnung. Man hatte ihnen damals geraten, die Wohnung voller Erinnerung zu verlassen und aus dem Muckensturm fortzuziehen. Irgendwo dort, so wird vermutet, lebt auch der Täter. Die Familie blieb. "Wir kneifen nicht", hat Heinrich Aichele einmal gesagt. "Er soll uns jeden Tag sehen."

Es gibt noch manches, was an Anja erinnert. Vielleicht auch den Mörder, der seit 23 Jahren mit seiner Tat lebt. Die Fahnder sind ihm ein gutes Stück näher gekommen.