Schlägereien, Diebstähle, Schüsse, Messerangriffe – und die Täter sind nicht selten noch minderjährig. „Die Entwicklung der Jugendkriminalität im Kreis Esslingen ist besorgniserregend“, stellt Landrat Heinz Eininger fest. Dazu gehöre insbesondere die Bandenkriminalität, an der zunehmend Heranwachsende beteiligt seien, sagt er mit Blick auf die jüngsten Gewaltexzesse in Esslingen, Plochingen und Ostfildern. Deshalb wolle man frühzeitig auf junge Straftäter zugehen. Mit gezielten Präventionsangeboten soll drohenden kriminellen Karrieren wirksam begegnet werden.
Zahl junger Tatverdächtiger steigt
Die polizeiliche Kriminalstatistik verdeutlicht den Ernst der Lage. Die Gewaltbereitschaft bei Minderjährigen nimmt demnach zu, informierte Eininger jüngst in den Sitzungen des Jugendhilfe- und Sozialausschusses des Kreistages. Lag die Zahl der unter 14-Jährigen, gegen die ein Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung eingeleitet wurde, im Jahr 2021 noch bei 74, stieg sie im Jahr 2022 auf 93 an. Bei den Jugendlichen bis 18 Jahre schoss die Zahl der Tatverdächtigen von 131 auf 211 hoch. Bei den Heranwachsenden bis 21 Jahre ist ein leichter Anstieg von 123 auf 128 zu verzeichnen. Inwiefern der Gruppenzwang dabei eine Rolle spielt, darüber kann die Statistik keine Auskunft geben. Aber: „Die Faszination von Jugendlichen, dazuzugehören, ist nach Einschätzung von Experten groß“, so Eininger.
Im vergangenen Jahr saßen aus dem Kreis 40 junge Menschen in Untersuchungshaft, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten. Wo es gelte, klare Grenzen zu setzen, sei der Staat gefragt, betonte Eininger. „Ohne abschreckende Strafen geht es nicht.“ Die Möglichkeiten der Sanktionierung seien im Jugendstrafrecht jedoch begrenzt, fügte Nico Niese, Jugendrichter am Amtsgericht Esslingen, hinzu. Die Folge: „Viele Kandidaten, die jetzt in U-Haft gehen, habe ich vorher schon mal gesehen.“ Um den sogenannten Drehtür-Effekt zu verhindern, seien bedarfsgerechte Hilfsangebote vor der Verurteilung enorm wichtig, hob der Jurist hervor.
Lücken im Netz der Hilfen
Das Netz an Jugendhilfemaßnahmen ist im Landkreis Esslingen bereits engmaschig. Laut Eininger gibt es unter anderem Angebote zur Prävention alkoholbedingter Jugendgewalt, den Täter-Opfer-Ausgleich, Anti-Aggressionstrainings und soziale Trainingskurse, die auf Diebstahls-, Sachbeschädigungs- und Mediennutzungsdelikte abzielen. Was jedoch fehlt, sind sozialpädagogische Angebote für jugendliche Straftäter, die vom Gericht zum Ableisten von Sozialstunden verurteilt wurden. Und immerhin 80 Prozent aller Jugendstrafverfahren enden laut Niese mit einer Arbeitsauflage.
Umso unverständlicher sei es, monierte der Jugendrichter, dass mit „Reset“ das einzige Programm seiner Art im Landkreis Anfang dieses Jahres eingestellt wurde – nach zehn Jahren Arbeit, die seiner Erfahrung nach „viel Positives bewirkt hat“. Doch die Zuschusse aus den europäischen Fördertöpfen war ausgelaufen, und dem Kreisjugendring Esslingen als Träger der Kinder- und Jugendförderung war es nicht gelungen, die Regelfinanzierung für das Sozialprojekt in Ostfildern sicherzustellen. Nach dem Willen des Jugendhilfe- und des Sozialausschusses soll schnellstens eine weitere Förderung beantragt und eine mögliche Brückenfinanzierung aus Rücklagen im Kreisetat geprüft werden. Zugleich haben beide Gremien die Verwaltung beauftragt, ein Konzept zu erarbeiten, wie künftig im gesamten Kreis sozialpädagogisch begleitete Arbeitsstunden angeboten werden können.
Junge Sexualstraftäter im Blick
Die Jugendgerichtshilfe hat noch eine zweite Lücke im System ausgemacht: Dringend erforderlich ist demnach auch ein spezielles Interventionsprogramm für jugendliche Sexualstraftäter. Für diese Zielgruppe gibt es laut Einiger derzeit im Kreis kein entsprechendes Angebot, „sodass keine erzieherisch sinnvollen Auflagen erteilt werden können“. Die Polizeistatistik belegt den Handlungsbedarf: Bei den Jugendlichen unter 14 Jahren steigt die Zahl der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung an: 2018 waren es noch vier Fälle, im Jahr 2023 dann schon 23. Bei Jugendlichen bis 18 Jahre kletterte sie im gleichen Zeitraum von 25 auf 71 Fälle; bei den Heranwachsenden lag sie bei um die 20 Fälle jährlich.
Ansprache und Aufklärung reichen hier nach Einschätzung der Kreisverwaltung „bei weitem nicht aus“. Notwendig sei eine gezielte Täterberatung. Eine solche Konzeption soll nun erarbeitet werden. Dabei wolle man mit den Fachberatungsstellen wie Kompass in Kirchheim und Wildwasser in Esslingen zusammenarbeiten.
Kinder, Jugendliche und Heranwachsende als Tatverdächtige
Strafrecht
Das Gesetz unterscheidet drei Altersgruppen, wobei das Alter zur Tatzeit ausschlaggebend ist. Kinder unter 14 Jahre sind strafunmündig. Gegen sie wird bei einer Straftat zwar ermittelt, aber kein Strafverfahren eingeleitet. Jugendliche, die zwischen 14 bis unter 18 Jahre alt sind, werden immer nach dem Jugendstrafrecht beurteilt. Bei Heranwachsenden, die volljährig, aber noch unter 21 Jahre alt sind, wird im Einzelfall entschieden, ob das Jugend- oder das Erwachsenenstrafrecht angewandt wird.
Statistik
Im Landkreis Esslingen wurden der Kriminalstatistik des Polizeipräsidiums Reutlingen zufolge im Jahr 2022 insgesamt 10 711 Tatverdächtige ermittelt, davonwaren 19,3 Prozent (2071) unter 21 Jahre alt. Die Zahl der tatverdächtigen Kinder stieg gegenüber dem Vorjahr von 447 auf 524 an, die der Jugendlichen von 808 auf 873. Die Zahl der Heranwachsenden, gegen die ermittelt wurde, sank von 712 auf 674. Die Zahlen für 2023 werden in den nächsten Tagen vorgelegt.
Jugendgerichtshilfe
Die beim Landratsamt Esslingen angesiedelte Jugendgerichtshilfe richtet sich an Eltern, deren Kinder mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind. Sie berät, begleitet und betreut junge Straftäter und ihre Familien. Die Mitarbeiter waren im vergangenen Jahr an an 51 Tagen beim Landgericht Stuttgart anwesend.