Brigate Rosse und Vertuschungsversuche durch den Staat. Davide Longo lässt in seinem Krimi „Die jungen Bestien“ Vincenzo Arcadipane in der Gegenwart und in der Vergangenheit ermitteln.

Stuttgart - Es gießt wie aus Eimern, der Regen prasselt so laut, dass man den anderen kaum versteht, die Stiefel versinken im Morast. Arcadipane will noch einmal an der Zigarette ziehen, aber der Filter hat sich sofort mit Wasser vollgesogen: „Er wirft sie weg und sieht zu, wie sie im Schlamm versinkt, von den Regentropfen mit einer Präzision getroffen, wie wenn ein Hammer auf einen breitköpfigen Nagel schlägt.“

 

„Männlich, jung, tot“

Auf einer Baustelle für die Schnellbahn von Mailand nach Turin ist in einer Baugrube eine Leiche gefunden worden, Arcadipane ist der zuständige Turiner Commissario, also muss er nachts im strömenden Regen über Feldwege fahren und sich die Leiche anschauen. In einem Container haben die Arbeiter die Knochen schon mal ungefähr so hingelegt, wie sie zusammengehören. „Männlich, jung, tot“, sagt der Polizeiarzt Sarace. „Da der Schädel am Hinterkopf ein Loch mit glattem Rand aufweist, ist es nicht abwegig zu denken, dass das Letzte, was er seinerzeit gehört hat, ein aufgesetzter Schuss war.“ Könnte vor zwanzig oder achtzig Jahren gestorben sein, das müssen genauere Untersuchungen feststellen. Also ein faschistischer Soldat oder ein Partisan. Vielleicht.

Aber dann finden sie auf der Baustelle noch neun Leichen. Und Arcadipane muss noch einmal zum Fundort. Aber da sind schon „die Mailänder“, die die Sache übernehmen, mit Commissario Nascimbene an der Spitze. Und der weiß es sofort: „Man soll es nicht glauben, wie viele davon auftauchen“, sagt er: „Abrechnungen während des Krieges oder danach. Mit Sicherheit wissen hier in der Gegend ein paar Alte noch, wer sie sind und wer sie umgebracht hat, aber wenn sie es bis jetzt nicht gesagt haben…“ Und damit ist der Fall abgeschlossen. Dummerweise ist die erste Leiche schon in Arcadipanes Revier, und er lässt sie untersuchen, die Pathologin datiert sie in die 1970er Jahre. Dann bekommt er einen Anruf vom Polizeipräsidenten, der ihm signalisiert, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Nun erst recht.

Davide Longo ist in seinem neuen Roman zu Vincenzo Arcadipane zurückgekehrt, den er in „Der Fall Bramard“ eingeführt hat, damals noch Assistent des Ermittlers Corso Bramard, der inzwischen als Lehrer tätig ist und ihm auch in diesem Fall hilft. Passenderweise, denn Bramard war bei der Politischen Polizei mit den Ermittlungen zu einem Brandanschlag auf die Parteizentrale der Neofaschisten 1977 befasst, bei dem ein zufällig im Gebäude anwesender Mann ums Leben kam. Und er erinnert sich an die Täter. Auch an den Studenten, der damals spurlos verschwand – seine Knochen kann Arcadipanes Kollegin Isa identifizieren.

Und so führt der Fall in eine dunkle Episode Italiens und Turins Geschichte zurück, in die Entstehung der Brigate Rosse aus der linksextremen Szene und die brutalen Aktionen der Neofaschisten. Am 1. Oktober 1977 ist in der Turiner Innenstadt eine Demonstration der linksextremen Lotta Continua und des Potere Operaio ausgeartet, aus Rache für den Tod eines Genossen wollte man die Zentrale der neofaschistischen Partei Movimento Sociale Italiano MSI anzünden, eine Splittergruppe warf in die Bar „Angelo Azzurro“ Molotowcocktails, ein unschuldiger Mann starb dabei.

Die „Bleierne Zeit“ in Italien

Longo führt uns aber auch die Verflechtungen zwischen den Neofaschisten und dem Staat vor Augen, die Auswirkungen bis heute haben. Denn bei vielen Anschlägen ist bis heute nicht klar, ob nicht die Staatsmacht auch ihre Finger im Spiel hatte und das jetzt gern vertuschen möchte. In Italien war die Zeit zwischen Ende der 60er Jahre bis in die 80er Jahre die „Bleierne Zeit“, eine Zeit der Unsicherheit und Angst, die vor allem von Neofaschisten, dem Geheimdienst und Teilen der CIA angeheizt und benutzt wurden. So wurde der Bombenanschlag auf den Hauptbahnhof von Bologna 1980, bei dem 85 Menschen starben, sofort den Brigate Rosse in die Schuhe geschoben, dann verliefen die Untersuchungen im Sand. Erst sechs Jahre später wurde nachgewiesen, dass es sich bei den Tätern um Neofaschisten mit Kontakten zum Militärgeheimdienst handelte.

Longo schreibt in einer klaren und oft poetischen Sprache

Fast ebenso wichtig wie der Fall und seine politischen Implikationen ist im Roman Acadipanes Befindlichkeit. Ohne zu wissen, warum, hat er Weinanfälle, die er nur durch Rauchen und das Essen von Lakritz unter Kontrolle bringen kann. Seine Kinder wollen unbedingt einen Hund, bei seiner Frau hat er Erektionsschwierigkeiten, und so geht er zu einer Therapeutin, Frau Ariel, die allerdings etwas seltsam ist, ihm aber dennoch mit ihren ebenso seltsamen Interventionen helfen kann: „Wussten Sie, dass Königspinguine ihren Partner auf den ersten Blick auswählen? Sie bleiben ihm ein Leben lang treu, und wenn er stirbt, verfallen sie in eine Art Katalepsie, bis ein Wal oder ein Polarbär sie frisst. Was hingegen uns angeht, so werde ich Ihnen zwischen den Sitzungen Aufgaben stellen. Sie sind frei, sie zu erfüllen oder nicht. Das Geld und die Probleme sind Ihre.“

Und so redet die Therapeutin eine Stunde lang, erzählt eine Geschichte nach der anderen, auch über ihn, den sie gar nicht kennt, und das meiste trifft genau, und dann ist die Stunde um. 100 Euro hat es ihn gekostet. Vier weitere Termine sollen folgen. Die erste Sitzung lässt ihn allerdings ratlos zurück: „Auf der Straße findet er denselben unentschlossenen Nieselregen vor wie bei seiner Ankunft. Er verspürt eine Müdigkeit, die er sich nicht erklären kann, und eine große Lust, sich zusammenzukauern.“ In einer Bar bestellt er sich einen doppelten Espresso und einen Kuchen und schläft dann ein, „ein Speichelfaden läuft ihm auf die Jacke aus echtem Lammleder, die ihm die Schwiegereltern geschenkt haben.“

Longo schreibt in einer klaren und oft poetischen Sprache, sensibel und präzise: „Es gibt eine Stunde am Abend, da auch zwischen den weniger schönen Palazzi und den expliziten Ladenschildern (Brot, Schuhe, Seile und Schnüre, Pizza, Hosen) alles von Chrom überzogen erscheint. Zu dieser Stunde fällt es einem schwer, die Straße zu verlassen, weil die Abgase sich mit einem gewissen Brackwassergeruch vermengen, der von der Dora her kommt, und jeder Atemzug der letzte scheint.“

Immer wieder gelingen Longo originelle Sprachbilder, immer wieder kann er Befindlichkeiten und Atmosphäre treffend und gleichzeitig leichtfüßig beschreiben, dass der Leser sofort einen Film vor sich sieht – meist in Schwarzweiß. Vor allem, weil Arcadipanes Innenleben dann wieder in den Hintergrund tritt und der politische Skandal, den der Fall für die Gegenwart hat, immer mehr in den Vordergrund.

Davide Longo: Die jungen Bestien. Roman. Übersetzt von Barbara Kleiner. Rowohlt Verlag. 412 S., 22 Euro