Null Medaillen bei einer WM? Jürgen Mallow, ehemaliger Chefbundestrainer und Sportdirektor des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), kritisiert Im Interview die DLV-Verantwortlichen und deren Umgang mit der aktuellen Krise scharf.

Der ehemalige Chefbundestrainer und DLV-Sportdirektor Jürgen Mallow hat nach dem Debakel ohne Medaille bei der WM in Budapest eine detaillierte Analyse der Situation des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) vorgenommen. „Die Aussagen bei Pressekonferenzen in Budapest sind zum Teil falsch, zum Teil halbwahr, zum Teil irreführend“, sagt der 78-Jährige und fordert Individualisierung statt Zentralisierung im Verband.

 

Herr Mallow, was sind die wesentlichen Inhalte Ihrer Analyse?

In einem Faktencheck habe ich die Aussagen der DLV-Verantwortlichen zur internationalen Leistungsentwicklung überprüft. Außerdem will ich die Finanzierung der Leistungsförderung einordnen.

Erstmals ohne Medaille bei Olympischen Spielen oder Weltmeisterschaften, die WM in Budapest war ein Debakel für die deutsche Leichtathletik.

In der Tat, es gab auch nur 36 Punkte in der Nationenwertung der Plätze eins bis acht, weniger waren es nur im Vorjahr bei der WM in Eugene. Wenn man das Ergebnis international einordnet und zugleich schaut, welche Folgerungen daraus im DLV gezogen werden, muss man zuerst einige Einblicke in die Welt zwischen Fiktion und Realität geben. In einem Interview während der Team-EM 2023 kündigte DLV-Sportdirektor Jörg Bügner an, dass nach der WM in Budapest abgerechnet wird: „Dann gibt es keine Ausreden mehr.“ In Budapest zog er dann das Fazit: „Die Weltspitze hat sich signifikant weiterentwickelt. (. . .) Die Medaillen verteilen sich auf immer mehr Nationen.“ Auch über Geld sprachen er und Präsident Jürgen Kessing.

„Der Abwärtstrend des DLV setzte bereits 2016 ein“

Nun ist Jörg Bügner noch keine sechs Monate im Amt, ist an den Ursprüngen der jüngsten Entwicklung kaum beteiligt. Wann hat die gegenwärtige Entwicklung Ihrer Einschätzung zufolge eingesetzt?

Der Abwärtstrend des DLV setzte bereits 2016 ein (drei Medaillen, 73 Nationenpunkte), 2019, 2021 und 2022 gab es die schlechtesten Ergebnisse bei WM und Olympischen Spielen seit 2003/2004. Dennoch war man optimistisch, dass es bereits in diesem Jahr deutlich bessere Resultate geben wird. Bestärkt wurde der DLV zusätzlich von der wissenschaftlichen Expertise des Deutschen Olympischen Sportbundes, die ihm noch im Oktober 2021 im Potas (Anm. d. Red.: Potenzial-Analyse-System) den ersten Platz innerhalb der Sommersportarten in Deutschland zusprach. Mit dieser Bewertung verbunden erfolgte ein weiterer Finanzierungsschub.

Liegt da nicht ein Widerspruch zwischen der Bewertung des Potenzials und der Realität vor?

Genau das ist der Fall. Ein erster Faktencheck zeigt nämlich, dass die Verantwortlichen es nicht so genau nehmen, wenn es um die Einordnung geht: Wo stehen wir im internationalen Vergleich? Welches sind die Ursachen? Die Fakten sind an den Leistungen abzumessen, etwa im Vergleich der Siegleistungen 2009 zu denen von 2023. Etwa 50 Prozent waren schon 2009 gleichwertig oder besser als 2023. Wenn wir zusätzlich in Betracht ziehen, dass die Weiterentwicklung von Laufbahnbelägen und Wettkampfschuhen ebenso wie die von Sprungstäben in den letzten Jahren einen erheblichen Anteil an der Leistungsverbesserung haben, ist der größere Abstand, den die DLV-Athleten zur Weltspitze haben, jedenfalls nicht mit dem Verweis auf die weltweite Leistungsentwicklung zu erklären. Die generelle Frage wäre ohnehin eher: Warum werden die anderen besser, wir aber nicht?

Aber immer mehr Nationen beteiligen sich am Medaillenkuchen, oder nicht?

Chefbundestrainerin Annett Stein und Sportdirektor Jörg Bügner haben dies als einen Grund angegeben. Die Aussage, dass sich die Medaillen auf immer mehr Nationen verteilen, ist aber falsch. Fakt ist, dass es 2007 bereits 47 Nationen waren, die Medaillen errungen haben. 2023 waren es 46. Wenn man schon relativieren will, müsste man auch sagen, dass seit einigen Jahren Russland und Belarus als Konkurrenten fehlen. Also: zwei Aussagen, beide falsch. Wem hilft das? Tatsache aber ist, dass wir immer weniger Medaillen gewinnen. Fakt ist, dass die DLV-Nationalmannschaft inzwischen deutlich weniger konkurrenzfähig ist als noch vor zehn bis fünfzehn Jahren. Dabei geht es nicht nur um die Medaillen, es lohnt sich auch der Blick auf die Plätze eins bis acht.

Was gibt dieser Blick her?

Sowohl 2007 bei der WM in Osaka als auch bei den Olympischen Spielen in Peking 2008 erreichten 50 Prozent der nominierten Athletinnen und Athleten einen Finalplatz. In Budapest waren nur 29 Prozent der Athletinnen und Athleten im Finale. Wenn das Ziel heißt, wieder unter die führenden fünf Nationen in der Welt zu kommen, hängen die Trauben sehr hoch.

„Nicht Zentralisierung, sondern Individualisierung ist gefragt“

Was läuft schief in der deutschen Leichtathletik?

Die Ursachen dafür liegen im Verband, bei denen, die für den Leistungssport verantwortlich sind. Immer wieder gilt die Maxime: Alles muss auf den Prüfstand, auch im Vorjahr nach Eugene. Jetzt wieder? Wo sehen sie Gründe und Lösungsansätze? Mein Lehrmeister Bert Sumser, einer der erfolgreichsten deutschen Trainer aller Zeiten, sagte häufig: „Vom Wissen zum Tun ist ein weiter Weg.“ Die Top-Team-Konzeption 2005 bis 2009 hatte weniger das Team als Ganzes, sondern die wichtigste Zelle Heimtrainer – Athlet – Verein im Fokus. Nicht Zentralisierung, sondern Individualisierung ist gefragt.

Sie hatten eingangs das Geld erwähnt. Könnte eine bessere finanzielle Situation helfen?

Aus Steuermitteln der Bundes erhalten der DLV und seine Kaderathleten 2023 etwa 13 Millionen Euro; die Leistungen der Bundesländer und der Vereine kommen noch hinzu. Ich befürchte, dass die Diskussion um das Geld vom Wesentlichen ablenkt. Ich denke, die dramatische Verschlechterung ist mit Geldmangel nicht zu erklären. 2019, also vor nur vier Jahren, gab es noch sechs Medaillen. Mehr Geld könnte sicher helfen, wenn es denn sinnvoll ausgegeben wird. Es ist aber überfällig, die Trainerqualifikation als Hauptaufgabe zu erkennen. Noch gibt es einige erfahrene Trainer, manche von ihnen allerdings auch schon im Rentenalter oder knapp davor. Wenn deren Wissen und Können auch noch verloren gehen und nicht rechtzeitig geeigneter Trainernachwuchs entwickelt wird, dann hilft auch die größte Geldspritze nichts mehr.

Was fordern Sie aus Ihrer Analyse, um die Situation des DLV und der deutschen Leichtathletik zu verbessern?

Der Verband wäre gut beraten, wenn die Einheit von Denken, Reden und Handeln wieder zur Maxime wird. Das hat uns zwischen 2004 und 2009 weit vorangebracht. Es geht in allererster Linie um Personen, der Verband benötigt dazu hochqualifizierte Führungskräfte. Es geht auch um mittel- und langfristige Konzeptionen einerseits, um Individualisierung andererseits und um die Einbindung aller Partner. Es gibt viele Bereiche, in denen noch erhebliche Reserven schlummern.