In einem ungewöhnlichen Brief wendet sich Belgiens Premier an seine Wähler. Darin beklagt er die ständigen Streitereien zwischen den Politikern und die Unfähigkeit zu konstruktiver Politik.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Ein Regierungschef spricht zu seinen Wählern. Ein völlig normaler Vorgang, könnte man annehmen. Doch was Alexander De Croo am Wochenende den „lieben Belgierinnen und lieben Belgiern“ zu sagen hatte, war dann doch sehr erstaunlich. Der Brief, der in mehreren Tageszeitungen veröffentlich wurde, war eine offene Anklage, in manchen Teilen dröhnend, bisweilen voller Bitternis. Die Zeilen sind aber auch eine Zustandsbeschreibung des aktuellen Politikbetriebs weit über das kleine Belgien hinaus, dessen Protagonisten meist nur noch an der Konfrontation und nicht mehr an Lösungen interessiert seien.

 

„Persönliche Angriffe haben zu oft Vorrang vor Argumenten“, resümiert der belgische Premierminister. „Der Konflikt überwiegt den Dialog. Die politische Klasse ist manchmal so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie das Volk und die Anliegen, denen sie dienen muss, vergisst.“

Besondere Verhältnisse in Belgien

In Belgien herrschen allerdings besondere Verhältnisse. Das Land ist regelrecht zerrissen zwischen Flamen und Walonen, Kompromisse sind meist ein schwieriger politischer Balanceakt. Alexander De Croo steht seit Oktober 2020 an der Spitze einer Regierung aus sieben Parteien, die Koalitionsverhandlungen dauerten einst 494 Tage. Wirkten die Corona-Krise und der Kriegsausbruch in der Ukraine anfangs noch mäßigend auf das leitende Personal, zerren inzwischen die politischen Zentrifugalkräfte mit Macht an den Bündnispartnern. Aktuell ist die Koalition seit Monaten festgefahren im erbitterten Streit um eine Steuerreform.

Ein Zitat des Basketballers Michael Jordan

Der Premierminister beklagt in seinem Brief allerdings nicht die Blockade konkreter politischer Projekte. Er zielt auf die widrigen Umstände, unter denen Politik gestaltet wird – oder eben nicht. Dabei zitiert er seinen Lieblingssportler, den Basketballstar Michael Jordan: „Das Talent gewinnt das einzelne Spiel, aber die Arbeit der gesamten Mannschaft gewinnt die Meisterschaft.“ Zuletzt habe aber dieser gemeinsame Wille gefehlt, etwas zu erreichen.

„Wir sehen Politiker, die sich beschwerten, anstatt Lösungen vorzuschlagen, die mit bloßen Ankündigungen Effekte erzielen wollen, um auf diese Weise zu punkten.“ Gleichzeitig werde von vielen Politikern immer nur betont, was in ihrem Land nicht funktioniere, anstatt ihre Arbeit zu machen und dafür zu sorgen, dass es funktioniere.

Die Unfähigkeit zu Kompromissen

Die Reaktionen auf den Brief von Alexander De Croo kamen am Wochenende postwendend. Die Kritiker werfen dem Premier vor, die eigene Unfähigkeit zum Kompromiss den anderen in die Schuhe zu schieben. In einer geradezu vernichtenden Analyse schreibt die Tageszeitung „Le soir“, dass die Koalition von einem Premierminister angeführt wird, der offen seine Ohnmacht eingesteht.

Dem Regierungschef könnte seine ungewöhnliche Offenheit folglich zum Verhängnis werden. Inzwischen wird sogar bezweifelt, dass er das letzte Jahr seiner regulären Regierungszeit überstehen wird. Der Brief, der von Alexander De Croo als politischer Befreiungsschlag gedacht war, könnte also zu einer Grabrede werden.