Der erfolgreiche Gründer und Unternehmer Ingmar Hoerr vermisst bei Start-ups im Südwesten den Mut zum Risiko. Ohne große Ziele blieben die hiesigen Unternehmen ohne Chance, sagt er im Interview.

Chefredaktion: Joachim Dorfs (jd)

Stuttgart - Ingmar Hoerr ist einer der erfolgreichsten Entrepreneure Deutschlands. Das von ihm gegründete Biopharmazieunternehmen Curevac in Tübingen ist etwa 1,5 Milliarden Euro wert; beteiligt sind unter anderem die Bill and Melinda Gates Stiftung. Im Gespräch kritisiert er pointiert die hiesige Innovationskultur.

 
Herr Hoerr, laut Ministerpräsident Kretschmann ist Baden-Württemberg bei Start-ups wie eine unterbewertete Aktie. „Morgen sind wir der Wachstumstitel schlechthin“, meinte er jüngst. Teilen Sie seinen Optimismus?
Ich bin schon Optimist, ja. Ich will nicht Kassandra sein. Aber ich teile nicht den Optimismus, dass man da hinkommt, ohne Grundlegendes in Baden-Württemberg zu ändern. Nur „laufen lassen“ reicht nicht.
Das hiesige Verständnis ist ja: die erste Runde der Digitalisierung haben die Deutschen verloren. Aber die zweite Runde gewinnen sie, weil es nun um die Dinge im „Internet der Dinge“ geht. Und da sind wir stark.
Ich kann das Wort „Digitalisierung“ nicht mehr hören. Das ist für mich das „Unwort des Jahres“. Digitalisierung bedeutet nichts weiter als den Ausbau von Infrastruktur und die Veränderung von Prozessen. Übertragen auf das 19. Jahrhundert wäre das vielleicht der Kanalbau gewesen. Dann hätte man eine Kanalisierungs-Strategie gebraucht und die Kretschmänner des 19. Jahrhunderts wären Kanalisierungsminister gewesen. In den USA redet kein Mensch über Digitalisierung. Dort ist es klar, dass man die Datenleitungen und Prozesse braucht. Da braucht es keine große Strategie. In Deutschland hat man dagegen etwa in der Diskussion um Industrie 4.0 ein Refugium gefunden, in dem man beruhigt sagen kann: da tun wir jetzt was.
Die Digitalisierung ist also nur Methode und nicht das Ziel?
Genau. Das ist wie die Autobahnisierung oder die Schienenlegisierung: Es ist nicht das, worum es geht. Wir sehen, die Automobilindustrie hat Probleme, da geht es ans Eingemachte. Das zeigt die Grenzen der Industrien im Land. Das ist auch normal, es gibt immer Lebenszyklen für Industrien.
Aber Digitalisierung heißt doch nicht nur Infrastrukturausbau, sondern auch die Suche nach neuen Geschäftsmodellen.
Es geht bei der Digitalisierung in erster Linie um neue Prozesse. Die Dampflok wurde durch die Diesellok und die E-Lok ersetzt, ganze Prozessketten und die Jobs der Heizer sind weggefallen. Und doch waren das inkrementelle Veränderungen. Auch E-Mobilität ist nicht wirklich disruptiv. Die Frage, die man wirklich stellen muss, ist doch: wo ist das Ziel des Ganzen? Wo will Deutschland, wo will Baden-Württemberg hin? Das hat mir noch keiner gesagt.
Was wäre Ihre Antwort?
Was wäre denn mit: „Wir wollen den Krebs besiegen“? Das könnte durch Innovation machbar sein. Als Kennedy forderte, der Mensch müsse auf den Mond, hat auch niemand daran geglaubt. Warum gibt die Politik nicht das Ziel aus: Wir wollen das Leben verlängern und gesund altern, und setzt eine Zielzahl? Das übt einen Sog aus, und im Zuge dessen kommt dann die Digitalisierung ganz von allein. Es braucht diesen gedanklichen Überbau, und den sehe ich hier nicht. Dass etwa in Indien die Leute nicht mehr an Krankheiten aus dem Mittelalter sterben, wäre doch ein Ziel, das zu erreichen uns Deutschen gut zu Gesicht stünde. Damit wäre auch die Globalisierung ganz anders zu vermitteln.
Ist das ein Mangel besonders in Baden-Württemberg?
Die Schwaben sind begnadete Tüftler. Wir sind innovativ, wir machen tolle Dinge. Es ist ja kein Wunder, dass es so viele Hidden Champions hier gibt. Beispiel: Wenn es eine Firma geben sollte, die als einzige weltweit Schrauben fertigt, die bestimmte Zahnimplantate halten können, dann kommt die garantiert aus Baden-Württemberg. Soweit super. Der Mangel besteht darin, dass diese Firmen oft aus der inkrementellen nicht in die disruptive Innovation kommen, also in diesem Fall etwa überlegen, wie man verhindert, dass die Zähne ausfallen. Dann wäre die Firma womöglich nicht nur ein Hidden Champion, sondern ein echter Champion. Warum hat nicht Daimler Uber entwickelt? Warum ist Tesla in den USA gegründet worden und nicht hier? Technologisch gehört da ja gar nicht so viel zu. Aber wenn hier jemand die Idee für einen Tesla gehabt hätte, hätte er vielleicht die Firma „Sonderfahrzeugbau Sigmaringen“ gegründet – als Garage mit drei Fahrzeugen auf dem Hof und einer Lieferzeit von zwei Jahren. Technisch wären die Fahrzeuge aber bestimmt besser gewesen als die ersten Teslas.
Beklagen Sie wirklich einen völligen Mangel an Ambition bei den Unternehmern?
Aus meiner Perspektive denke ich: es fehlt häufig dann doch das entscheidende Quäntchen Mut durchzustarten, die Bereitschaft, bewusst ins Risiko zu gehen und große Mittel einzusetzen: kurz, die Mentalität. Der „Sonderfahrzeugbau Sigmaringen“ wäre vermutlich niemals davon ausgegangen, gegen Daimler bestehen zu können. Möglicherweise hätten die Gründer die Idee sogar Daimler angeboten, wären aber natürlich abgeblitzt. Tesla-Gründer Elon Musk dagegen hat einen funktionierenden Prototypen gebaut, dann global gedacht und hatte keinen Zweifel, es mit dem Verbrennungsmotor aufnehmen zu können. Man muss immer bei der Vision anfangen, und landet dann automatisch bei der Digitalisierung.
Aber nirgendwo wird so viel in Forschung und Entwicklung investiert, das Land belegt vorderste Plätze in Innovationsrankings, es gibt hier die meisten Patente pro Einwohner.
Ja, wir sind Weltmeister bei den Erfindungen. Aber wie viele Patente werden denn wirklich bei uns kommerzialisiert? Vielversprechende Patente werden viel zu früh völlig unterbewertet an Amerikaner und neuerdings auch an Chinesen abgegeben, die damit Milliardenumsätze erzielen. Das ist ein Dilemma. Die EU investiert ganze 77 Milliarden Euro zwischen 2014 und 2020 in das Forschungsförderungsprogramm Horizon 2020 . Doch was dabei wirklich in Bezug auf Wirtschaft, Menschen, Arbeitsplätze oder gar Lösungen für die Menschheit rauskommt, ist viel zu wenig wahrzunehmen. Da wird viel mit der Gießkanne unterstützt, doch wenn ein Ansatz wirklich revolutionär ist, dann fehlt der Anschluss, um die Innovation auf die nächste Ebene zu heben, nämlich eine konsequente und natürlich auch riskante Produktentwicklung und Vermarktung. So bleibt man oft der verrückte Spinner, der etwas entdeckt hat – das habe ich ja selbst anfänglich erlebt.
In Europa wird zu klein gedacht?
In Deutschland und Europa wird überhaupt zu wenig nachgedacht und zu oft kurzfristig reagiert. Der Staat wird da seiner Verantwortung nicht gerecht. Warum denkt man nicht zum Beispiel daran, wie in Bhutan Glück und ein erfülltes Leben für die Bürger als Staatsziel zu definieren. Das klingt zunächst recht verrückt, aber das wäre groß gedacht, und daraus würde sich ganz viel ergeben. Doch selbst im Kleinen ist Politik oft ein Trauerspiel: wenn der Staat Innovationen fördern will, muss er doch zumindest Ausgaben in Forschung und Entwicklung oder Investitionen von Risikokapital begünstigen. Doch seit zehn Jahren streiten sich Bundesfinanz- und Wirtschaftsministerium darum und der Durchbruch fehlt immer noch. Stattdessen werden Förderprogramme aufgelegt, die so klein sind, dass sie verpuffen. Da ist zum Beispiel Israel deutlich besser. Oder auch die Schweiz. Die hat nach der Finanzkrise einen Zukunftsfonds gegründet, der groß in disruptive, riskante Technologien investieren wird. Dagegen sind die hiesigen Fonds nicht maßgeblich.
Sie verdanken den Fortbestand von Curevac maßgeblich SAP-Gründer Dietmar Hopp.
Ja, wir haben Dietmar Hopp und seinem Team alles zu verdanken. Er ist eine der wenigen Ausnahmen. Dietmar Hopp hat sich unbeeindruckt von Moden vor langem schon mit großen Summen an Curevac beteiligt. Andere Investoren waren da sehr zaghaft, weil unser Geschäft sehr risikobehaftet ist. Da hat der Neue Markt und sein Zusammenbruch viel kaputt gemacht und die Branche hat sicher 15 Jahre verloren.
Curevac ist hoch bewertet, Sie schreiben noch Verluste. Können Sie noch scheitern?
Wir wollen 2022 unser erstes Produkt, ein Medikament gegen Tollwut auf den Markt bringen. Solange noch kein Produkt auf dem Markt ist, kann ein Unternehmen immer scheitern, und wir können auch immer noch folgenschwere Fehler machen. Die Technologie hingegen, die Boten-RNA, einen Erbinformationsträger so einzusetzen, dass der Körper selbst Abwehrkräfte gegen Krankheiten produziert, hat sich meiner Meinung nach bereits durchgesetzt. Das bleibt in jedem Fall.
Und wenn Sie erfolgreich sind?
Dann können wir langfristig in die Dimension des US-Biotechunternehmens Genentech wachsen, mit einer hohen zweistelligen Milliardenbewertung.