Wie schmeckt A-Dur? Welche Farbe hat der Montag? Vier Prozent der Weltbevölkerung haben Synästhesie, doch viele wissen nichts davon. Christine Söffing aus Neu-Ulm spricht über ihr Leben mit verknüpften Sinnen.

Psychologie und Partnerschaft: Eva-Maria Manz (ema)

Wenn Christine Söffing mit einem Löffel in der Kaffeetasse rührt, erwachsen aus diesem Geräusch Bilder. Zackige Linien tanzen in viele verschiedene Richtungen. Sie sind nur so dünn wie Bleistiftminen, aber nicht grau, sondern dunkelgrün mit hellblauer Kontur. Dann breitet sich eine samtig-hellorange Fläche in Christine Söffings Atelier aus, als sie ihren Gast sprechen hört. Wenn ein Auto draußen aufs Gas geht, hört sie das tief anthrazit. Aber in dieser Hinterhofwohnung im Zentrum von Neu-Ulm ist es meist ruhig. Nicht wie früher, als die Nachbarn noch Röhrenfernseher hatten und Söffing von den endlosen Zackenlinien des hochfrequenten Geräuschs behelligt wurde.

 

Synästhesie ist medizinisch nachgewiesen

Was für manche verrückt klingt, ist Synästhesie. Seit mehr als 300 Jahren ist das neurologische Phänomen in der Musikwissenschaft und den Neurowissenschaften erfasst. Dennoch kaum in der breiten Gesellschaft bekannt. Dabei betrifft es 4,4 Prozent der Weltbevölkerung, und statistisch gesehen ein bis zwei Kinder in jeder deutschen Schulklasse. Es ist keine Störung, Krankheit oder Psychose, sondern eine Form der menschlichen Wahrnehmung, bei der die Stimulation eines Sinnes parallel im Gehirn eine Reaktion hervorruft – ganz so, als wenn ein weiterer Sinn angesprochen wäre. Das liegt an der neurologischen Verschaltung der einzelnen Gehirnareale, die für die Verarbeitung der Sinneseindrücke zuständig sind. Synästhesie kann in bildgebenden Verfahren wie der funktionellen Kernspintomografie dargestellt und belegt werden: Ist beispielsweise eigentlich durch einen Klang nur das Hörzentrum angesprochen, wird beim Synästhetiker auch der Teil des Gehirns aktiv, der visuelle Eindrücke verarbeitet.

Dabei gibt es die Synästhesie in unterschiedlichsten Ausprägungen: Manche sehen Wochentage, das Alphabet oder Zahlen farbig, andere können Wörter oder Namen schmecken, wieder andere sehen Text wie Untertitel vor dem inneren Auge ablaufen, wenn sie Wörter hören. Bei manchen haben Zahlen eine Persönlichkeit: Die 7 ist ein zickiges Mädchen und die 3 ein schicker Herr in Frack. Oder Klänge, Düfte und Gerüche erscheinen als Farben und Formen wie bei Christine Söffing aus Neu-Ulm. Entscheidend bei der Frage, ob es sich um Synästhesie handelt, ist der bleibende Charakter der Synästhesien: Ist das A rot, bleibt es rot, es kann dann gar nicht anders gedacht werden.

In Christine Söffings Synästhesiewerkstatt entstehen nicht nur Duftinstallationen, Plastiken und Malereien. Hier hilft die 59-jährige Kunsthistorikerin und Lehrerin auch Kindern und Erwachsenen dabei, ihrer Wahrnehmung Gestalt zu verleihen, sie stärker zu differenzieren und besser zu verstehen. Das kann Kindern in der Schule helfen, die sonst oft anecken und auf Unverständnis stoßen mit ihrer besonders bunten Welt. Andere können sich das ja nicht vorstellen.

Ihre Welt ist bunter und vernetzter

Und das macht die Forschung zu Synästhesie auch für die Normalbevölkerung relevant – es rührt an das, was in der Philosophie Qualia-Problem genannt wird: Man kann nicht wissen, wie es ist, der andere zu sein. Was er sieht, fühlt, riecht und schmeckt, was er erlebt. Es ist eine der ureigenen Fähigkeiten von Kunst oder Literatur, das Wahrgenommene, die innere wie die äußere Welt, bildlich greifbar zu machen – das sind nichts weniger als zutiefst menschliche Formen der Kommunikation und Wissensvermittlung.

Synästhetiker, glaubt Christine Söffing, haben viele Vorteile. Ihre Welt ist bunter und vernetzter: Durch die Fähigkeit, Zahlen, Wörter und Sequenzen wie Woche oder Jahr farbig und oft auch in räumlicher Anordnung zu sehen, können sie sich an vieles besser erinnern als die meisten anderen Menschen. Bei Studien zur Verarbeitungsgeschwindigkeit und Gedächtnisleistung schnitten Synästhetiker überdurchschnittlich ab.

Christine Söffing hat sich für ihre Verknüpfungen von Geräuschen mit Bildern digital ein Archiv angelegt, sortiert nach Farben und Namen. Wie klingt der Teelöffel in der Tasse, in einem Pot, in einer Schüssel? Und was sieht sie? Die Formen, die ihr bei lauten Klängen erscheinen, sind oft breiter und höher als bei leisen. Besonders intensiv erlebt sie die Synästhesie beim Musizieren. Söffing spielt viele Instrumente. Aber sie kann keine Noten lesen. Sie hört alle Klänge in Farb- und Formnuancen mit unterschiedlichen Oberflächen, mal rubbelig, flauschig, zackig, riefig. Wenn Flageoletttöne erklingen, erscheinen zwei verschiedene Grüns, die einander überlagern – das eine heller, das andere dunkel. Die meisten Saiteninstrumente sind grün, schwingende Töne anderer Instrumente oft rosa, Pauken erdfarben.

Sie versuchen, den Geschmack von Pumpernickel zu vertonen

Im musischen Zentrum der Uni Ulm bietet Söffing Kunst- und Musikkurse an für Studenten, Professoren und Beschäftigte der naturwissenschaftlichen Studiengänge. Kreative Lösungsfindung ist auch für die Mediziner wichtig. Neulich hat Söffing dort mit einem Ensemble aus Physikern, Chemikern und Medieninformatikern versucht, den Geschmack von Pumpernickel zu vertonen. Stundenlang aß man gemeinsam Pumpernickel und sprach darüber, wie es schmeckte. Süß und malzig natürlich, und dann hatte man Krümel zwischen den Zähnen. Das Malzige war für Christine Söffing dunkelgrün, ein Chemiker rechnete die Farbe in Schwingungen um. Die Krümel wurden dann zu einer Tonabfolge, die ein Kollege mithilfe der Granularsynthese erzeugte.

Jahrelang sucht sie nach etwas, das lila klingt

Die Künstlerin war schon 19, als sie von ihrer Synästhesie erfuhr. Damals übte ihre Freundin für die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule auf der Flöte. Söffing sollte zuhören und sagen, ob es gut klingt. Dabei stellte sie fest, dass sie selbst kleinste Veränderungen im Spiel bemerkte. Sie konnte sagen, wenn an einer Stelle am Tag zuvor noch ein helleres Grün erklang, eine Farbe ganz fehlte oder zu lange erschien. Söffing fing an, sich mit Synästhesie zu beschäftigen, las alles, was sie dazu fand, und wurde in ihrem Kunstgeschichtsstudium von manchem Dozenten belächelt.

Seither besucht sie viele Konferenzen, ist im Vorstand der Deutschen Synästhesie-Gesellschaft. In den USA und in Großbritannien ist die entsprechende Forschung noch aktiver als hier, erzählt sie. Die Synästhesie-Gesellschaft bemüht sich, immer wieder Publikationen ins Deutsche zu übersetzen, um neues Wissen zu verbreiten.

Nur an einem fehlte es Christine Söffing jahrelang. Nie hörte sie einen lilafarbenen Klang. Lila tauchte einfach nirgends auf. Dann eines Tages traten in einem Kirchenkonzert zwei Inuitsängerinnen auf. Bei dem traditionellen Gesang der Indigenen standen zwei Frauen Bauch an Bauch und sangen einander in den Mund. Aus diesem Paar stieg wolkengleich das fremde Lila auf.

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Buch
Eine eher wissenschaftliche Einführung ins Thema gibt es hier: Hinderk M. Emrich, Udo Schneider, Markus Zedler: Welche Farbe hat der Montag? Synästhesie: das Leben mit verknüpften Sinnen. 192 Seiten, 2022, 3. Auflage, Hirzel-Verlag, ISBN 978-3-7776-2941-4.

Online
Die Deutsche Synästhesie-Gesellschaft hat hier einige Infos zusammengestellt: https://synaesthesie.org/ In englischer Sprache wird man hier www.thesynesthesiatree.com/ Tree und hier fündig http://www.daysyn.com/