In Fotoserien zeigt die ukrainische Fotografin Yevgenia Belorusets das Leben der Erniedrigten und Beleidigten. In diesem Winter hat sie die Protestierenden von Kiew aufgenommen.

Stuttgart - Zwei junge Frauen blicken erschöpft, aber wachsam in die Kamera. Behelmte Polizisten schauen hinter ihren Schutzschilden hervor, verloren und traurig. Ein Schnauzbärtiger zupft selbstvergessen an einer Gitarre. Yevgenia Belorusets hat in den vergangenen Monaten immer wieder das Protestcamp auf dem Kiewer Maidan besucht und die Menschen dort fotografiert. Barrikadenbau und Kämpfe sparte sie aus: „In meinem Projekt interessierte ich mich für die Freizeit dieser Leute“, erklärt die Autorin, Foto- und Videokünstlerin. Immer wieder war sie in diesen eiskalten Wintertagen mit ihrer Kamera durch die besetzten Häuser rund um den Platz gezogen, beobachtete und fragte, fotografierte und filmte. Die dabei entstandene Fotoreihe war bis Mitte Februar in Berlin zu sehen. Auf dem Maidan, erzählt die Ukrainerin, habe sie ihre Landsleute von einer neuen Seite kennengelernt.

 

„Niemand konnte sich am Anfang vorstellen, dass am Ende eine Veränderung steht“, sagt sie. Beeindruckt hat sie der kompromisslose Einsatz der Demonstranten, wochenlang, bei Kälte, ohne Privatsphäre, ohne Waschgelegenheiten. In der Luft lag der „Geruch der Obdachlosigkeit“. Belorusets erkannte: „Sehr viele Menschen sind bereit, ihren Komfort zu opfern, obwohl sie sich keine großen Chancen ausrechnen.“ Dass der Maidan ein Sammelbecken auch für rechtsradikale Ideen wurde, alarmierte sie. Die Katastrophe war der 18. Februar, als Polizei und Militär mehr als 80 Demonstranten erschossen. „Die Menschen sind bis ins Mark erschüttert. Niemand in der Ukraine hatte sich das vorstellen können.“

Sie hebt die Details hervor, die westliche Augen übersehen

Bei einem Kräutertee sitzt Belorusets im Café Binder in der Tübinger Altstadt und zerpflückt eine Brezel in winzige Stücke, bevor sie sie isst. Die 33-Jährige wirkt freundlich, harmlos. Sie ist klein und zierlich, trägt einen schlichten grauen Rock und Cardigan, dazu flache Boots. Geschminkt ist sie nicht. Sie hat Germanistik studiert und spricht ein schönes, müheloses Deutsch. Mit ihren Maidan-Bildern hebt sie die Details hervor, die westliche Augen übersehen. Zugleich erfährt man einiges über ihre Herangehensweise. Der abgelichtete Musiker zum Beispiel klimpert nicht auf einer Gitarre, sondern auf einer Kobsa, einem Instrument, das stark patriotisch besetzt ist. Das Fingersymbol auf der Blumenvase ist das der rechtsradikalen Svoboda-Partei. Der Mann habe in einem besetzten Haus bei Svoboda-Leuten gesessen und Volkslieder gesungen. „Die Situation war politisch rechts konnotiert“, erinnert sich Belorusets. „Ich sprach den Mann an und erwartete eine nationalistische, fremdenfeindliche Einstellung. Doch seine Ansichten waren sehr differenziert und weltoffen.“ Sie habe auf dem Maidan noch viel mehr solcher Menschen getroffen. „Das gab mir Hoffnung.“

Man kann sich gut vorstellen, wie es kam, dass sich die Befragten der netten jungen Frau geöffnet haben. Belorusets kann nämlich gut zuhören. Sie sitzt ganz still, schaut ihr Gegenüber freundlich und neugierig an. Mit dieser offenen Haltung hat sie es vermutlich auch geschafft, teilweise sehr intime Fotoserien zu erstellen. Dem Beobachten und Zuhören folgt eine kluge Analyse und Einordnung. Belorusets hat eine klare Agenda, soziale Missstände anzuprangern. Ihre preisgekrönten Bilder aus der „Gogolstraße 32“ zum Beispiel zeigen, wie die Bewohner eines zerfallenden Kiewer Wohnblocks versuchen, in den verdreckten Räumen ihre Würde zu behalten.

Ausstellung geschlossen wegen Pornografieverdachts

Für die Reihe „Ein Zimmer für mich allein“ begleitete die Fotografin über einen längeren Zeitraum gleichgeschlechtliche Paare. Die Aufnahmen zeigen Alltagsszenen, jemand hängt Wäsche auf, eine Frau stillt ein Baby. Als Belorusets die Aufnahmen vor zwei Jahren in Kiew ausstellte, wurde die Galerie von Rechtsradikalen attackiert, Bilder wurden zerkratzt und von der Wand gerissen. Eine andere Ausstellung in Räumen der Universität wurde vom Rektor geschlossen – wegen Pornografieverdachts. Der Mann ist heute der Bildungsminister im Übergangskabinett.

Der Bürgerprotest, die Flucht des Autokraten Janukowitsch haben in der Ukraine noch nichts grundsätzlich geändert. „Die Situation für Künstler ist schwierig und ohne Zukunft“, sagt die 33-Jährige. Seit Februar 2013 lebt sie immer wieder monatsweise in Berlin. „Die deutsche Kultur spielt eine große Rolle für mich. Sie hat mir das Gefühl der Freiheit gebracht.“

„Ich habe alle Gerichtsverfahren gewonnen“

Aufgewachsen ist sie in einer Intellektuellenfamilie. Ihr Vater Mark Belorusets ist ein bekannter literarischer Übersetzer, der unter anderem Paul Celan ins Ukrainische und Russische übertragen hat. In der heimischen Wohnküche trafen sich zu Sowjetzeiten die Dissidenten zu starkem Tee und leidenschaftlichen Diskussionen. Solche Informationen muss man Belorusets allerdings aus der Nase ziehen.

Als man sie darauf anspricht, dass das Internet kaum biografische Details über sie preisgibt, muss sie grinsen. Das sei gewollt. Seit sie 26 war, so erzählt sie dann doch, habe sie in verschiedenen sozialen Projekten in Kiew mitgearbeitet und sich unter anderem gegen staatliche Bauprojekte engagiert. „Ich habe gelernt, wie man sich durchsetzt. Ich habe alle Gerichtsverfahren gewonnen.“ Sagt’s, legt den Kopf schief und zieht amüsiert die Brauen hoch.

Am Abend in der voll besetzten Werkstatt des Tübinger Landestheaters erleben die Besucher eine begnadete Rednerin. Nicht ohne Humor legt sie ihre Analyse der Zustände auf dem Maidan vor, laut und klar. „Zuerst war es nur eine Bewegung für Europa. Zuerst war es ein Spektakel, das den Mächtigen zeigen sollte: Ihr müsst mit uns rechnen. Dann wurde es eine Bewegung gegen Entwürdigung und Beraubung.“ Als die jungen Demonstranten im November brutal zusammengeschlagen wurden, seien die Älteren nachgerückt. „Meine Freunde, die keine Mücke töten können, haben Molotowcoktails gemacht.“ Das politische System habe sich selber zu Fall gebracht. „Der Maidan wurde das Instrument zum Selbstmord eines korrupten Staates.“ Im Scheinwerferlicht glitzern Belorusets’ Augen.

Zur Person

Preis: Yevgenia Belorusets (33) lebt in Kiew und Berlin. Sie arbeitet mit Fotografie und Video, immer an der Schnittstelle zu sozialen Bewegungen. Für ihre Arbeit „Gogolstraße 32“ erhielt sie den Fotografiepreis des „Guardian“.

Projekt: Im Frühjahr plant das Literaturhaus Stuttgart einen Abend mit ihr. Die Veranstaltung am LTT Tübingen wurde in Kooperation mit dem EU-Projekt Trans Star Europa veranstaltet. Momentan arbeitet Belorusets an einer Langzeitstudie über die daheimgebliebenen Familien ukrainischer Arbeitsmigranten.