Das National Philharmonic Symphony Orchestra in Lviv begreift sich als Botschafter ukrainischer Kultur – bei seinen Tourneen durchs Ausland ebenso wie bei Auftritten an der Front. Ihre Musik schenke Freude in schlimmer Zeit und ehre die Toten des Krieges, sagen die Musiker, die selbst täglich mit einer Einberufung rechnen müssen.

Ein eisiger Wind fegt an diesem frühen Morgen um die altehrwürdige Philharmonie im Herzen von Lviv, Sitz des Lviv National Philharmonic Symphony Orchestra. Dort wartet schon zusammen mit einigen Kollegen Denys Lytvynenko vor dem Künstlereingang. Der verabredete Interviewtermin muss verschoben werden, ganz kurzfristig seien sie aufgefordert worden, sich im Rekrutierungsbüro einzufinden. Sie müssen los. Dann also bis morgen! Aber auch am nächsten Morgen klappt es nicht – Denys muss zu einer militärärztlichen Untersuchung. Schließlich sitzt man endlich zusammen. Erste Frage: Können denn selbst Musiker eines Weltspitzenorchesters eingezogen werden? Ja, selbstverständlich! Und es kann jederzeit geschehen. Es gibt nur sehr wenige Ausnahmefälle. Fünf Musikerkollegen sind schon an der Front, ein Fagottist hat einen Finger verloren.

 

Musiker in Schützengräben

Musiker in Schützengräben

Im vergangenen Jahr, erzählt Denys, der Konzertmeister der Cellogruppe und seit 14 Jahren Mitglied im Orchester, „da war es ziemlich hart. Manchmal gab es mehrfach täglich Bombenalarm in Lviv, im Winter tagelang keinen Strom, kein Licht, es war oft sehr kalt.“ Mittlerweile mache Luftalarm ihn nicht mehr nervös.

Sein Kollege Mikhailo Sosnovskyi, erster Flötist und Manager des Orchesters, sagt: „Alle Ukrainer haben inzwischen jemand verloren, den sie geliebt haben. Oder machen sich große Sorgen um jemand, der vielleicht im Donbass im Schützengraben liegt. Aber für die Soldaten es ist noch schrecklicher, sie frieren, haben Hunger – also warum sollten wir hier unsere Aufgaben nicht erfüllen können?“ Er selber habe bereits nahe stehende Menschen verloren. Die Trauer um sie sei immer da. „Ich spiele jetzt zu Ehren derjenigen, die ich verloren habe.“ Denn auftreten, sagt Sosnovskyi, können die Musiker selbst unter widrigsten Umständen: „Als Profi hat man gelernt, auf der Bühne jederzeit beste Qualität abzuliefern“.

In dem schmalen Künstlerzimmer, das Mikhailo mit vier Kollegen teilt, ist er gerade mit administrativen Aufgaben beschäftigt. Neben ihm ist hinter einem großen Bildschirm sein Kollege Ivan in seine Arbeit versunken. Mikhailo zieht aus einem riesigen Stapel ungebundener Notenblätter ein großformatiges Einzelblatt, ein handschriftliches Autograf für ein Flötenkonzert und schwer zu lesen. „Ivan überträgt diese Noten mithilfe einer Software in den PC, auf diese Weise werden sie gut lesbar und wir können sie vervielfältigen, ausdrucken und online bereitstellen“, erklärt er begeistert. Ivan, Waldhornspieler im Orchester, mache das großartig. Ivan lächelt. Offenbar bringt sich hier jeder mit allem ein, was er oder sie auch sonst noch kann.

Das Orchester verfügt über eine große Zahl herausragender Künstler. Mikhailo zum Beispiel ist nicht nur Konzertmeister der Flötengruppe, sondern tritt regelmäßig auch als Solist auf. Denys – der auch Komponist ist - ist seit neun Jahren Cellist des renommierten Phoenix String Quartet, das bis Februar 2022 weltweit Tourneen unternommen hat und sich aus den vier Stimmgruppenführern der Streicher zusammensetzt.

Volodymyr Syvokhip, Dirigent der Symphoniker und seit 2006 Direktor und künstlerischer Leiter, ist sich sehr wohl bewusst, mit welch hochkarätigen Instrumentalisten er arbeitet und schwärmt: „Die Musiker treffen sich in allen kammermusikalischen Konstellationen und führen Werke aus allen Epochen auf, von alter bis zeitgenössischer Musik.“ Dass so viele von ihnen Kammermusik machen, habe zur Folge, „dass sie es gewohnt sind, gut aufeinander zu hören, sich miteinander zu verbinden, so entsteht eine große Energie und Synergie und sie können auch sehr anspruchsvolle Werke miteinander spielen.“ Wenn sie nicht zusammen seien, würden sie einander vermissen, erzählt Syvokhip. Und noch immer seien nach Tourneen während des Krieges alle wieder mit zurückgekommen.

Musik stiftet Gemeinschaft

Musik stiftet Gemeinschaft

Es gibt einen spürbaren gemeinsamen Spirit, der sich auch in dem Willen ausdrückt, mit der Musik Botschafter ihrer Kultur und für die Unabhängigkeit zu sein. Vielfältige kreative Projekte für den Frieden erzählen davon. Syvokhip berichtet, dass sie seit 2014, als am 20. Februar hundert Menschen auf dem Maidan erschossen wurden, regelmäßig zu diesem Datum im Gedenken an die Opfer ein Requiem aufführen. Im März 2014 habe man ein landesübergreifendes Kulturprojekt initiiert, genannt „Shared Sky“ – „gemeinsamer Himmel“. Sieben führende Orchester aus Nord und Süd, Ost und West führten zur selben Stunde auf sieben Flughäfen des Landes Beethovens „Ode an die Freude“ auf. Um die unteilbare Einheit des gesamten Landes augenfällig zu machen und ein Zeichen für das Assoziierungsabkommen mit der EU zu setzen. Etliche weitere Beispiele ließen sich anführen.

„Ausgelöst durch den Krieg ist das Bedürfnis stark geworden, unserem Volk und der Welt zu zeigen, wie hinreißend schön unsere Musik und wie groß und tief unsere Kultur ist“, sagt Syvokhip. Vieles davon sei selbst in der Ukraine derzeit nicht verfügbar oder unbekannt, beklagt Denys und führt als Ursache an, „zur Zeit des Sowjetimperiums durftest du Deine Kultur nicht vertreten, es hätte Dich Dein Leben gekostet. Die Musik ukrainischer Komponisten wurde nicht gedruckt, nicht aufgeführt – oder aber als russisch deklariert.“ Und fährt fort: „Wir müssen jetzt für unsere Kultur, unsere Musik und unsere Sprache kämpfen. Wenn wir keine Kultur haben, gibt es keinen Grund zu kämpfen. Dann sind wir bereits tot. Unser Volk, das ist unsere Kultur, das ist unsere Hoffnung.“

Die Musik tue allen Menschen jetzt besonders gut, bringe Licht und Freude in ihr Leben. Genau dies bestätigen auch Konzertbesucher in Lviv. So veranstalten die Lviver Philharmoniker nicht nur regelmäßig entspannende Konzerte für Kinder. Sie besuchen auch regelmäßig Soldaten in den Trainingszentren, um dort zu konzertieren.

Die Liste der Solisten und Gastdirigenten, die jahrzehntelang bis zum 24. Februar 2022 in Lviv zu Gast waren, liest sich wie ein „Who‘s Who“ der ganz Großen. Aber viele Künstler trauen sich nun nicht mehr ins Land. Die Lviv Philharmoniker selbst, in den vergangenen Jahrzehnten Initiatoren und Gastgeber einer geradezu unüberschaubaren Zahl renommierter Festivals für alte bis zeitgenössische Musik, dürfen zum Glück reisen. Und: Sie spielen derzeit so viel Musik ukrainischer Komponisten ein, wie nur irgend möglich, zeichnen Konzerte auf und stellen alles in einen eigenen Youtube-Kanal ein – damit dieser Schatz kostenfrei für jede und jeden im Land und der Welt erlebbar sei.