Landgericht Stuttgart Neuer Gerichtspräsident sorgt sich um den Rechtsstaat

Der neue Präsident des Landgerichts Stuttgart sorgt sich um das Ansehen der Justiz. Offene Anfeindungen seien für die Gesellschaft „brandgefährlich“, so Andreas Singer.
Stuttgart - Er ist erst seit März dieses Jahres Präsident des Landgerichts Stuttgart. Andreas Singer hebt aber schon mahnend den Zeigefinger. Der Rechtsstaat und seine Einrichtungen würden zum Teil offen angefeindet. „Und das nicht nur von den sogenannten Reichsbürgern“, so Singer, die die Bundesrepublik nicht als souveränen Staat anerkennen. Das Gewaltmonopol des Staates werde zunehmend infrage gestellt. „Das berührt das Fundament unseres friedlichen Zusammenlebens. Diese Entwicklung ist für unsere Gesellschaft brandgefährlich“, sagt Singer.
„Wie stark ist dieser Rechtsstaat noch?“, fragt der Chef des Landgerichts, das mit 130 Richterinnen und Richtern und mit seinem Zuständigkeitsbereich zu den bundesweit größten gehört. Das Vertrauen in der Bevölkerung schwinde angesichts islamistischer Anschläge, angesichts der Zahl der Wohnungseinbrüche und der um sich greifenden Cyberkriminalität. 70 Prozent der Bevölkerung würden nach höheren Strafen rufen, 50 Prozent seien der Ansicht, das Risiko, Opfer einer Straftat zu werden, sei gestiegen. Von rechtsfreien Räumen sei gar die Rede. „Der Rechtsstaat muss den Menschen wieder Halt geben“, mahnt Singer.
Eine Milliarde Euro Zuschussbedarf
Im Koalitionsvertrag sei ein „Pakt für den Rechtsstaat“ niedergelegt. Es soll bundesweit 2000 neue Richterstellen geben. „Was mich sorgt: Seither habe ich von diesem Pakt nichts mehr gehört“, so der Präsident. Justiz und Strafvollzug in Baden-Württemberg hätten einen Zuschussbedarf von einer Milliarde Euro. Bei elf Millionen Einwohnern bedeute das 8,45 Euro pro Person und Monat. „Da wäre jeder Euro gut investiert – in Sicherheit und Rechtsfrieden“, so Andreas Singer, ehe er sich dem juristischen Tagesgeschäft zuwendet.
Das Stuttgarter Landgericht ächzt nämlich unter einer Vielzahl von Großverfahren. Einige davon legen komplette Strafkammern auf Monate hinweg lahm. Singer nennt beispielsweise den sogenannten Osmanen-Prozess gegen die mutmaßlichen Anführer einer gewalttätigen Straßenbandeoder das „Paradise“-Verfahren gegen den einstigen Bordellkönig Jürgen Rudloff. Hinzu kämen auf zivilrechtlicher Seite Hunderte Verfahren im Zusammenhang mit dem Lkw-Kartell und dem VW-Abgasskandal. Sollte die Staatsanwaltschaft Stuttgart noch weitere Anklagen nach ihren Diesel-Ermittlungen erheben, werde dies nicht ohne zusätzliche Kammern gehen. „Mit dem Bestand, den wir hier haben, können wir das nicht schultern“, stellt Andreas Singer klar.
Fast 300 Klagen im Abgasskandal anhängig
Wie sehr der Abgasskandal ins Kontor schlägt, umreißt Bernhard Schabel, der Pressesprecher in Zivilsachen. In Sachen Volkswagen steuere man auf die Zahl von 300 Verbraucherklagen zu. VW-Dieselkäufer wollten ihre Autos zurückgeben oder eine Preisminderung oder einen Neuwagen. „Die Prozessstrategie von VW und der Autohäuser geht dahin, nach Möglichkeit für sie negative Entscheidungen von Obergerichten zu verhindern“, sagt Bernhard Schabel. In der Regel komme es dann zu Vergleichen, über die Stillschweigen vereinbart werde. „Dadurch wird die Klärung der Rechtsfragen verhindert“, so der Zivilrichter.
Landgerichtspräsident Singer kommt auf seine mahnenden Worte zurück und preist das ehrenamtliche Engagement in der Justiz. Hier seien die Schöffinnen und Schöffen zu nennen. Allein am Landgericht Stuttgart gebe es in der neuen, fünfjährigen Schöffenperiode insgesamt 960 davon. Unschätzbar wertvolle Arbeit leisteten auch die ehrenamtlichen Zeugenbegleiter, die allein im vergangenen Jahr mehr als 100 Opferzeugen zur Seite gestanden hätten, und die Bewährungshelfer. „Ich ziehe den Hut vor ihnen“, so Andreas Singer.
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