Stephan Weil könnte niedersächsischer Regierungschef werden. Doch bisher kennt kaum jemand den Mann, der bisher in Hannover als Oberbürgermeister die Insignien der Macht in der Hand hat.

Hannover - Irgendwann muss der Landtagswahlkampf ja mal anfangen. Nach Weihnachten will die SPD plakatieren, viele CDU-Ortsvereine erst im neuen Jahr. Aber Stephan Weil tourt schon mal von Aurich bis Celle, denn es ist ein Kuriosum: kaum einer kennt den Mann, der in Niedersachsen allen Umfragen zufolge den Ministerpräsidenten David McAllister (CDU) am 20. Januar ablösen wird, weil die FDP aus dem Landtag fliegt. An diesem Wintertag tritt Weil in Hildesheim auf; das ist Schünemann-Land, der als Hardliner bekannte Innenminister hat hier seinen Wahlkreis und die lokale Presse fest im Griff, wie die örtlichen Genossen sagen. Uwe Schünemann kennt jedes Kind.

 

Stephan Weil hat als Oberbürgermeister von Hannover bereits die Insignien der Macht – die schwarze Dienstlimousine, den Begleitschutz vom Bundeskriminalamt –, und höflich bildet sich ein Empfangskomitee, sobald er einen Betrieb, eine Behörde oder ein Krankenhaus besucht. Mit einem Ministerpräsidenten in spe will es sich kein lokaler Amtsträger verscherzen. Doch als Stephan Weil dann in Anzug und Lederschuhen zum Eisstockschießen auf den Hildesheimer Weihnachtsmarkt rutscht und sich danach einen Glühwein genehmigt, wird sein Dilemma deutlich: Kaum einer im Volk dreht sich nach ihm um. Am Nachbartisch steht eine Gruppe von Azubis einer Aromafabrik beim Glühwein. Stephan Weil – der Mann mit der schwarzen Wollmütze? Nie gehört, nie gesehen, heißt es unisono. Laut einer Umfrage traut sich jeder Zweite im Lande ein Urteil über den SPD-Mann nicht zu, und könnten die Niedersachsen ihren Ministerpräsidenten direkt wählen, würden die meisten McAllister (49 Prozent) den Vorzug geben vor Weil (30 Prozent).

Weil kam erst spät in die Politik

Den Kandidaten selbst ficht das nicht an. Genauso wenig wie Presseberichte, wonach er „ein blasser Kandidat“ sei. Solidität, sagt Weil, das sei doch nicht negativ. Außerdem sei er erst seit elf Monaten als Spitzenkandidat aktiv, und eine Landtagswahl sei „kein Ego-Contest“. „Ich will die Wahl gewinnen. Dabei geht es um Mehrheiten – und da sind die Umfragen gut für uns.“ So sachlich der 54-Jährige auch argumentiert, wenn er über die FDP spricht, die ihm den Sieg in die Tasche legen könnte, ein maliziöses Grinsen kann er sich nicht verkneifen: „Wissen Sie, die niedersächsische FDP unter Rösler ist die richtige FDP, da steht FDP drauf und ist FDP drin. Das ist nicht wie in Schleswig-Holstein, wo ein Kubicki die FDP wieder ins Parlament bringt.“ Rösler sei wie Senkblei für seine Partei.

Der gebürtige Hamburger Weil, verheiratet und Vater eines erwachsenen Sohnes, kam spät in die Politik. Er war zunächst Staatsanwalt, Richter und Kämmerer. Erst im Alter von 47 musste er um eine Wahl kämpfen – und wurde OB von Hannover. Weil kann durchaus witzig sein im kleinen Kreis, aber seine juristische Herkunft schüttelt er nie ab. Beim Termin im Evangelischen Krankenhaus von Holzminden lässt er sich die Misere eines defizitären Regionalkrankenhauses schildern, bezeichnet die Ungerechtigkeiten der Finanzierung als „unbegreiflich“, aber er nimmt die Chefärzte und Geschäftsführer bei Kaffee und Kuchen dann auch ins Kreuzverhör – gerade wie ein Staatsanwalt: „Haben Sie die Pläne mit dem Sozialministerium abgestimmt?“ „Wenn Sie Kaiser von Deutschland wären, was würden Sie bei der regionalen Förderung ändern?“ „Wie lange ist der Anfahrtweg im Kreis zu Ihrer Klinik?“ So geht das in einem fort, und man merkt, der Kandidat kann auch fordern.

Weil will sich „maximale Mühe“ geben

Der längste Anfahrtsweg zum Hildesheimer Krankenhaus dauert übrigens eine halbe Stunde, und da sagt Weil, das sei halbwegs in Ordnung, er habe auf seiner Niedersachsentour schon Krankenhäuser besucht, bei dem die Anfahrt aus einem fernen Dorf eine Stunde dauerte. Jedenfalls schließt er den Besuch im Hospital versöhnlich ab: „Ich werde mir maximal Mühe geben, dass Sie eine anständige Finanzierung bekommen.“

Mit den maximalen Bemühungen des Kandidaten ist das so eine Sache. Auf seinen Wahlkampfterminen betet er die sozialdemokratische Litanei herunter, wie es wohl alle SPD-Kandidaten tun: Mindestlohn, bessere Bildung für alle, ein „Drehbuch für die Energiewende“ und den Ausbau der Kitaplätze, denn da belege Niedersachsen den drittschlechtesten Platz im Bundesvergleich. Nur fragen sich selbst Wohlgesinnte, welchen Impuls eigentlich Stephan Weil darüber hinaus setzen möchte, was sein Herzensanliegen ist. Ach ja, die demografische Entwicklung – dieses Thema ist eine Vorliebe von Weil. Wenn er über sie spricht, wie neulich in Celle, dann schildert er die Bedrohung aber so, dass es den Leuten auch nicht gerade den Atem verschlägt: „Denken Sie mal an Ihre Freiwillige Feuerwehr. Haben Sie 2030 noch genügend junge Männer für die Wehr?“

Höflicher Beifall für eine 14-Minuten-Rede

Mit Charisma könnte man inhaltliche Leere überspielen, doch diese Eigenschaft gehört nicht zu den Stärken Stephan Weils. Von seiner Rede beim Grünen-Parteitag in Hannover ist in Erinnerung, dass er die gute Gastronomie und die Gastfreundschaft Hannovers lobte. Und auf dem SPD-Parteitag kürzlich stand er dermaßen im Schatten von Peer Steinbrück, dass man sich in Weils höflich beklatschter 14-Minuten-Rede vor allem an den Hinweis erinnerte, dass auch Kurt Schumacher aus Hannover stammte.

Nach Hildesheim folgt noch ein Abendtermin in Hannover, eine Podiumsdiskussion zum Thema 150 Jahre SPD. Ein intellektuelles Publikum, rund 100 Leute sitzen im Klecks-Kindertheater vor einem roten Wandteppich mit den Worten „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ und lauschen einer Debatte über die Zukunft der SPD. Am Stehtisch beim obligatorischen Gratisrotwein sagt eine Genossin – Duzfreundin von Weil – dass „den Stephan“ vor allem seine Seriosität und Sachlichkeit auszeichne, der sei „kein Zuspitzer“. Noch verbinde man mit Weil eher „Stadthalle und Rathaus“, aber erst einmal gewählt, werde er „im Amt wachsen“. „Er kann ein guter Ministerpräsident sein.“

Im Saale wogt derweil eine Debatte über Gerhard Schröder, den der Soziologe Heinz Bude, der zuvor über die Abstiegsgefahr des Mittelstandes doziert hat, als erfolgreichen Politiker bezeichnet, was auf heftigen Widerspruch des niedersächsischen IG-Metall-Chefs Hartmut Meine stößt. Der kreidet Schröder an, das Verhältnis der SPD zu den Arbeitnehmern „erheblichen Belastungsproben“ ausgesetzt zu haben. Zu diesem Zeitpunkt ist Stephan Weil schon zu einem Videodreh verschwunden, und so hört er auch die Schlussworte nicht, in denen die Diskutanten die wichtigsten Zukunftsaufgaben der SPD umschreiben. Eine Idee von Sozialstaat zu entwickeln, fordert eine Bildungsforscherin auf dem Podium. Den Schwächeren eine Stimme zu verleihen, sagt der Gewerkschafter. Der Soziologe ruft die SPD dazu auf, eine Welt zu entwickeln, „in der jeder die Chance hat, das Leben zu führen, das er leben will“. Es wartet, so hat es den Anschein, auf einen möglichen neuen SPD-Ministerpräsidenten eine Herkulesaufgabe.