Der jüngste Schnee hat das Lawinen-Risiko in den Alpen erhöht. Ein Besuch im Institut für Schnee- und Lawinenforschung der Schweiz.

 Davos - Im Lawinenforschungszentrum von Davos sitzen drei Männer vor einem Monitor und diskutieren über das Wetter – aber es geht um Leben und Tod. Ski- und Snowboardfahrer sind in die Schweizer Skigebiete gekommen, Tiefschneefahrer werden abseits der Piste ins Tal wedeln, Tourengeher in abgelegene Gebiete vordringen. Die meisten Lawinen entstehen, wenn es frisch geschneit hat – und in den vergangenen Tagen hat das Tiefdruckgebiet Andrea den Alpen viel Schnee gebracht.

 

In Davos am Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) wird im Winter zweimal täglich eine Lawinenprognose für alle Schweizer Gebirgsregionen erstellt. 180 geschulte Personen beobachten, verteilt über das Land, die Schneedecke. Außerdem geben Bergführer ihre Erfahrungen des Tages durch und 170 Stationen funken ihre Messdaten nach Davos. Der Wind ist ein weiterer Risikofaktor, erläutert Thomas Stucki, der Leiter des Teams Lawinenwarnung.

Er bläst den Schnee weg, hinter Bergrücken oder in Mulden bleibt er dann liegen und türmt sich auf, oft ohne sich mit dem Altschnee darunter zu verbinden – als würde er nur darauf warten, abzurutschen und hinab ins Tal zu schießen. Um 15 Uhr beginnt jeden Tag die geschlossene Sitzung der Lawinenprognostiker, an der Tür blinkt dann ein rotes Licht: „Lawinenwarndienst – bitte nicht stören!“ Zwei Stunden später wird das Bulletin ins Internet gestellt, an Radio- und Fernsehsender verschickt.

 "Und dann kommt einiges runter"

Es besteht aus einem schriftlichen Teil und einer Karte. Für heute ist sie in der südlichen Hälfte der Schweiz weitgehend orange eingefärbt, das bedeutet: Stufe 3, erhebliche Gefahr. Die europäische Skala reicht von Stufe 1 bis 5. Auch wenn es kaum noch schneit, rechnet man mit kleineren Ansammlungen von Triebschnee. Einzelpersonen können sie in Bewegung setzen. Samuel Balsiger, 27, ist Skilehrer der Schneesportschule Davos und damit einer der regelmäßigen Leser der Bulletins des SLF.

Er ist hier im Tal geboren und nach zahlreichen Fortbildungen zum Thema Lawinen einer der Spezialisten der Schneesportschule, wenn es darum geht, Gäste abseits markierter Pisten in den Tiefschnee zu führen. Das sogenannte Freeriding ist Trend im Wintersport – eine für Lawinen anfällige Disziplin. „Am Jakobshorn werden immer wieder Lawinen losgesprengt“, berichtet er. „Und dann kommt einiges runter.“ Das Jakobshorn ist eines der großen Skigebiete in Davos.

Morgens, bevor die Gäste kommen, sprengt der Pistendienst Schneeansammlungen weg, die auf die markierten Abfahrten rutschen könnten. Direkt am Ausgang der Bergstation sieht man, wie eine gefürchtete Schneebrettlawine aussieht. Eine handhohe Kante im Schnee, 20 Meter oberhalb der Piste in einem Steilhang. Scharf ist sie, als hätte jemand ein Stück weiße Schokolade aus dem Hang gebrochen.

Die Lawinen-App für's Handy

Die abgebrochene Deckschicht, der Neuschnee der vergangenen Nacht, ist auf dem Altschnee in Richtung Tal gerutscht, am Rand der Piste zum Liegen gekommen – und dort von der Pistenraupe planiert worden. Diese Lawine wurde mit einer Sprengladung ausgelöst, sie zeigt aber, dass sich auch ohne Dynamit Schneebretter lösen könnten. „Für Schneesport abseits gesicherter Gebiete ist Erfahrung in der Beurteilung der Lawinengefahr nötig“, heißt es im Lawinenbulletin.

Für denjenigen, der ohne ortskundigen Bergführer unterwegs ist, bietet das SLF eine Hilfe im Gelände: die kostenlose Applikation White Risk für Mobiltelefone. Mit ihr kann man noch in der Gondel sein Wissen über Lawinen auffrischen. Merksätze sind dort aufgeführt zum Beispiel: „Neuschnee und Wind bedeuten Lawinengefahr“ und „Je steiler und schattiger ein Hang, desto gefährlicher“. Ein anderer Menüpunkt führt Alarmzeichen (Wummgeräusche, frische Lawinen) auf.

White Risk enthält aber auch Hilfen, mit denen man am Berg entscheiden kann, ob eine Abfahrt ein Risiko ist oder nicht: einen Hangneigungsmesser zum Beispiel. Die aktuellen Lawinenbulletins sind ebenfalls abrufbar. Seinen Gästen empfehle er die App, sagt Balsiger, doch als Führer müsse er die Inhalte im Kopf haben. Bei seinen Touren haut er oft mit dem Stock in den Schnee neben der Piste. „Eine Skilehrer- und Bergführerkrankheit“, sagt er. „So kann ich spüren, welche Konsistenz der Schnee hat.“

„Wir geben eine Planungshilfe"

Zurück im Lawinenforschungszentrum, Zeit, um mit Thomas Stucki über Verantwortung zu sprechen. 2009 hat es im Diemtigtal im Berner Oberland bei einer Skitour im freien Gelände ein schweres Lawinenunglück gegeben: Eine Lawine verschüttete eine Gruppe von Tourenskifahrern, eine zweite Gruppe kam zu Hilfe und wurde von einer zweiten Lawine begraben, sieben Menschen starben.

Die Lawinengefahr für das Gebiet hatte man in Davos damals als „mäßig“ eingestuft – haben die Prognostiker einen Fehler gemacht? „Das war wirklich ein tragischer Unfall und hat uns sehr beschäftigt“, sagt Stucki. „Schlimm wäre es, wenn wir Daten, die wir hatten, falsch interpretiert hätten, das war aber nicht der Fall.“ Die Datenlage vor dem Unfalltag habe eindeutig für die Warnstufe „mäßig“ gesprochen damals.

„Die Gefahrenstufe gilt für eine Region und nicht für einen Einzelhang“, sagt Stucki. „Wir geben eine Planungshilfe, letztendlich muss aber immer der Mensch am Berg entscheiden, ob es im Einzelhang gefährlich sein könnte, und dementsprechend Vorsichtsmaßnahmen ergreifen.“ Die Statistik zeigt, dass die Anzahl der Lawinentoten in der Schweiz konstant geblieben ist, obwohl sich wegen des Freeriding-Trends die Zahl der Menschen vervielfacht hat, die abseits der Pisten unterwegs sind. Ein Verdienst nicht zuletzt der Informationen des SLF.

Was Lawinen begünstigt

Hangneigung Faktoren, die die Lawinengefahr beeinflussen, sind das Wetter, der Aufbau der Schneedecke – und die Geländebeschaffenheit, als Einzige eine Konstante für einen Hang. Eine Neigung von mehr als 30 Grad und Nordlage begünstigen Lawinen.

Wetter Trockene Schneebrett- lawinen, in den Alpen im Winter die häufigste Lawinenart, entstehen meistens an klaren Tagen, nachdem es große Menge Neuschnee gegeben hat. Wind verfrachtet Schnee, kann ihn auftürmen und so ein zusätzliches Risiko sein.

Schneedecke Damit eine große Lawine entstehen kann, muss es in der Schneedecke eine Sollbruchstelle geben. So kann etwa Reif erschweren, dass Neuschnee sich fest mit der Altschneedecke verbindet. Es ist dann möglich, dass er als Lawine zu Tal rutscht

Hier finden Sie die Bulletins des SLF  und die Übersicht der Warndienste für Österreich.