Die Leichtathletik wird kurz vor den Weltmeisterschaften in Peking von immer neuen Dopingfällen erschüttert.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Stuttgart - In diesen Tagen lohnt ein Blick zurück, zum Beispiel auf die Leichtathletik-Europameisterschaften in München 2002. Sie waren ein rauschendes Fest im Olympiastadion, begeisterte Athleten, begeisterte Zuschauer, begeisterte Verbände. Das Münchner Publikum wurde später vom Internationalen Olympischen Komitee sogar für sein faires und positives Verhalten geehrt. Nun, im Rückblick, war die EM eine Farce: 18 der 48 Europameister von München waren früher oder später in Dopingaffären verwickelt; fast 40 Prozent.

 

Die EM 2002 ist 13 Jahre her, aber das Gestern ist aktueller denn je. Die Vergangenheit holt die Leichtathletik ein. Erst waren da die Recherchen der ARD und der „Sunday Times“, nach denen circa ein Drittel der Medaillengewinner in Ausdauerdisziplinen bei Großereignissen zwischen 2001 und 2012 verdächtige Blutwerte aufgewiesen haben sollen. In der Summe 146 Athleten. Dazu soll in diesem Zeitraum jede vierte Medaille bei den lukrativen Stadt-Marathons von Läufern mit auffälligen Blutwerten gewonnen worden sein. Am Dienstagabend gab dann der Weltverband zu, dass bei Nachuntersuchungen von Dopingproben der Weltmeisterschaften 2005 (Helsinki) und 2007 (Osaka) noch einmal 28 Athleten aufgefallen seien.

Zustände wie einst im Radsport?

Das alles untermauert den Verdacht, den viele Experten haben, dass in der Leichtathletik Zustände wie einst im Radsport herrschen. Massenhafter Betrug. Welche Dimension das Dopingproblem in der Leichtathletik hat, das zeigen auch offizielle Zahlen der IAAF: Die Liste der aktuell wegen Dopingverstößen gesperrten Athleten (Stand 8. August) umfasst 21 Seiten. Rund 300 Namen sind dort aufgeführt, mehr als in jeder anderen Sportart. Und das bei allen bekannten Mängeln des Dopingkontrollwesens, was Schlimmes erahnen lässt. Dass die IAAF nun bei Nachtests dank neuer Methoden fündig wurde, ist zumindest eine gute Nachricht: Sie unterstreicht die Bedeutung von langen Verjährungsfristen für Doping und der Aufbewahrung von Dopingproben. Es schürt Unsicherheit.

Manch einem Beobachter kommen diese turbulenten Tage der Leichtathletik vor wie ein Déjà-vu. Das gab es doch alles schon mal. Eine Sportart, in der mehr und mehr Dopingfälle bekannt werden. Ein Verband, der um Glaubwürdigkeit kämpft. Es erinnert an den Radsport, so um das Jahr 2005 vielleicht, bevor dann 2006 der ganz große Knall kam. Helmut Digel, Mitglied im Council der IAAF, sieht diese Analogie nicht und wehrt sich auch gegen den Vorwurf, der Verband tue zu wenig. „Wir sind in einer ganz anderen Situation als der Radsport. Wir geben sehr viel Geld für den Antidopingkampf aus. Wir haben als erster Verband den Blutpass eingeführt, wir haben eine umfangreiche Blutdatenbank angelegt und so weiter“, sagte Digel der StZ: „Aber klar ist auch: Im Ausdauerbereich scheint Blutdoping weit verbreitet zu sein, das zeigen unsere Daten. Das andere Problem, das derzeit nicht im Fokus steht, ist der Sprintbereich und sind die Würfe: Dort haben wir nach wie vor das Problem der anabolen Steroide und von Testosteron.“

Digel schätzt die Summe der Betrüger auf 20 bis 30 Prozent

Die Leichtathletik hat all das Doping eigentlich recht gut überstanden. Das massenhafte Doping in der Hochphase des Ost-West-Konflikts, die Nachwirkungen dieser Zeit wie auch die Balco-Affäre 2003, in die Superstars wie die dreifache Olympiasiegerin von Sydney 2000, Marion Jones, Kelli White, Weltmeisterin über 100 und 200 Meter 2011, und Tim Montgomery, der 2002 einen 100-Meter-Welrekord aufstellte (9,78 Sekunden), verwickelt waren. Es waren nicht nur schlecht beleumundete Kugelstoßer oder Hammerwerfer aus Osteuropa, die im angeblich sauberen Westen gerne als Synonym für Doping herhalten müssen und kaum einen empören, nein: die Leichtathletik hat auch Stars verloren. Ohne Folgen. Es kamen neue Helden nach, und wenn die ausfielen, kamen wieder neue. So geht das seit Jahrzehnten. Es ist ein bisschen wie bei den russischen Matrjoschka-Figuren. Skandale kommen und gehen in der Leichtathletik. So auch dieser, glauben viele. Das Geschäft? Es brummt vielleicht nicht mehr, aber es läuft noch.

Die aktuelle „Eskalation“ (Digel) ist mitten in den Wahlkampf um das Präsidentenamt der IAAF geplatzt. Das erklärt vielleicht auch manch verbale Reaktion auf Prozentzahlen möglicher Betrüger, die der IAAF selbst ja so oder so ähnlich bekannt sind. Sebastian Coe (58), der frühere Mittelstreckenläufer und heutige Topfunktionär, sprach von einem Angriff auf die Sportart. Der Brite, das muss man wissen, kämpft gegen den Stabhochsprung-Weltrekordhalter Sergej Bubka (51) um die Nachfolge des Senegalesen Lamine Diack (82) an der Spitze der IAAF. Am Mittwoch wird in Peking auf dem Kongress vor der WM in Chinas Hauptstadt (22. bis 30. August) gewählt, und manche Aussage dieser Tage richtet sich wohl auch nach innen, an die Funktionärsfamilie. Der IAAF-Mann Digel schätzt die Summe der Betrüger auf 20 bis 30 Prozent – eine gewaltige Zahl. Aber nicht unrealistisch, siehe München 2002.