Lernbehinderte und Demenzkranke profitieren voneinander.

Leonberg - Es ist im Landkreis Böblingen ein einzigartiges Projekt, das Kathrin Gehring auf die Beine gestellt hat. Regelmäßig geht die Lehrerin der Pestalozzischule, ein sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum in der Bahnhofstraße, mit vier oder fünf Schülern in die Stube im Seedamm-Center. Dort werden bis zu neun Demenzkranke tagsüber betreut, damit deren Angehörige arbeiten oder ihren Haushalt erledigen können. Je nach Jahreszeit spielen, basteln, backen oder singen Jung und Alt dort zusammen. „Ich mache ein niederschwelliges Angebot, damit meine Schüler mit den alten Menschen in Kontakt kommen“, erklärt Kathrin Gehring. Die meisten Schüler, von denen viele einen Migrationshintergrund haben, hätten jüngere Großeltern oder diese lebten im Ausland.

 

Ihr generationenübergreifendes Projekt ist das, was man eine Win-Win-Situation nennt. „Die Schüler legen mögliche Berührungsängste gegenüber den Themen Alter oder Demenz ab, die Demenzkranken arbeiten beispielsweise an ihrer Feinmotorik, wenn sie basteln oder Teig kneten“, erläutert die 31-Jährige. Irgendwie kämen immer Gespräche zustande. „Im Winter fragen die Schüler dann beispielsweise, wie das Schlittenfahren früher war“, erzählt Kathrin Gehring. Und Essen sei ein einfaches Mittel, um Generationen zusammenzubringen. Als die Schüler den Senioren den Cup-Song zeigten, bei dem gleichzeitig gesungen und mit zwei Bechern der Takt geschlagen wird, hätten sie die Erfahrung machen dürfen, dass auch die Jungen den Alten etwas beibringen können.

Schüler müssen sich für die AG bewerben

Das Interesse der Schüler aus den Klassen sechs bis neun, die in der Regel Lernschwierigkeiten oder Verhaltensauffälligkeiten haben, ist groß. Daher müssen die Jugendlichen für die Oma AG, wie die Schüler das Projekt liebevoll getauft haben, eine Art Bewerbung abgeben, in der sie ihre Motivation darlegen. Jeweils ein Schulhalbjahr lang besucht Kathrin Gehring mit einer Gruppe die Stube. „Aber die Jugendlichen haben die Möglichkeit, sich mehrfach zu bewerben, und viele tun das auch“, berichtet die Sonderschulpädagogin.

Ein Stück weit möchte sie den Schülern mit ihrem Projekt auch berufliche Orientierung geben, sie sollen ausprobieren, ob ihnen Altenpflege liegen könnte. „Einige haben anschließend weitergehende Praktika gemacht, ein Mädchen hat sogar eine Ausbildung zur Altenpflegehelferin begonnen“, weiß die 31-Jährige. Für die Teilnahme stellt die Lehrerin den Jungen und Mädchen ein Zertifikat aus, das sie bei Bewerbungen in ihren Lebenslauf mit aufnehmen können.

Jeweils zwei Donnerstagnachmittage in Folge besucht Kathrin Gehring mit ihren Schülern die Stube, anschließend wird an einem Donnerstagnachmittag das Erlebte besprochen und bisweilen der nächste Besuch vorbereitet. Damit die Schüler verstehen, warum ein Demenzkranker beispielsweise beim Memory auf einmal sämtliche Spielregeln vergisst, spricht sie im Vorfeld über das Krankheitsbild. Auch die körperlichen Einschränkungen, die das Alter mit sich bringt, will sie für die Schüler erlebbar machen: „Wir machen praktische Übungen, bei denen man zum Beispiel die Seiten eines Buches mit Handschuhen umblättern muss oder schieben uns gegenseitig im Rollstuhl durch einen Parcours“, erzählt Kathrin Gehring. Manchmal leiht sie bei der Sozialstation auch einen Alterssimulationsanzug aus, in dem man physisch nachempfinden kann, wie sich der Körper im Alter anfühlt.

Lob vom Kreisseniorenrat

Die Idee zu einem generationenübergreifenden Projekt hatte die gelernte Kinderkrankenschwester während ihres Studiums. „Ich musste feststellen, dass in der ambulanten Pflege in dieser Richtung wenig läuft“, erzählt Kathrin Gehring. Während ihres Referendariats an der Pestalozzischule suchte sie nach einem Projekt mit kooperativem beziehungsweise inklusivem Charakter und stieß mit ihrer Idee bei der Stubenleiterin Ute Meister auf offene Ohren. „Im Winterhalbjahr 2014/15 haben wir einen Testlauf mit Schülern der Klassen sechs und sieben gemacht, seit dem Schuljahr 2015/16 läuft das Projekt als Schul-AG“, erklärt die 31-Jährige.

Lob aus berufenem Munde bekam Kathrin Gehring, als sie die Oma AG beim Gerontologie-Tag des Kreisseniorenrates Böblingen vor zwei Jahren vorstellte. „Rosemarie Hering, die damalige stellvertretende Vorsitzende, hat gesagt, das sei ja mal ein wirklich innovatives Projekt“, erklärt die 31-Jährige mit einem Lächeln.