Die große Schau der Lachtränen: das Stuttgarter Ballett hat Christian Spucks meisterhafte Büchner-Adaption „Leonce und Lena“ zurück auf den Spielplan geholt. Zum Glück, findet unser Theaterredakteur. Dieses Stück ist nämlich besser als jeder Youtube-Film.

Stuttgart - „Kann man sich hier denn nicht einmal gepflegt langweilen, ohne dass einen jemand stört?“ Um das zu sagen, muss Marijn Rademaker kein einziges Wort sagen. Seine Miene, seine Gesten, sein ganzer Körper sprechen das aus. Und zwar so, als habe er die Situation noch nie zuvor erlebt und sei zum allerersten Mal deswegen so indigniert. Ist er aber nicht. Christian Spucks „Leonce und Lena“ am Dienstagabend im Opernhaus, diese Wiederaufnahme der 2010 in Stuttgart erstaufgeführten Choreografie, ist für ihn kein unbekanntes Terrain. Den Leonce hat er hier schon einmal getanzt. Zahlreiche andere Ensemblemitglieder haben jedoch ihr Rollendebüt gegeben.

 

Allen voran Alicia Amatriain als Lena. Die Rolle des zickigen Teenagers, der keinen Bock auf die Gepflogenheiten der höfischen Gesellschaft im Allgemeinen und eine arrangierte Heirat im Besonderen hat, liegt ihr. Und der getanzte Dialog mit ihrer Gouvernante ist höchst amüsant.

Die massakrierte Lilie

Anna Osdacenko gibt diese frisch und gewitzt wie ehedem. Der Pas de deux, den Lena traumverloren mit Leonce im weißen Hemd tanzt, gelingt Amatriain mit stupender Geschmeidigkeit und schwebender Leichtigkeit. Immer wieder wechselt dabei der Ausdruck des verliebten Mädchens mit dem der strahlenden Ballerina auf ihrem Gesicht.

Erstmals ist am Dienstagabend Louis Stiens der Hofprediger. Vor allem bei der Trauungsszene am Schluss sorgt er für große Heiterkeit im Publikum, als er vor lauter Erregung fast die Lilie massakriert, die er in Händen hält. Herrlich sind sein Mienenspiel und seine Körpersprache mit ihrer unwiderstehlichen Mischung aus debiler Schwerfälligkeit und fahriger Nervosität. Überzeugend stellen sich auch Elena Bushuyeva als Zeremonienmeister und Alexander McGowan als Landrat erstmals als überspannte, allzu dienstbeflissene Mitglieder des Hofstaates vor. Den Vogel schießt freilich Magdalena Dziegielewska ab, die bei der Wiederaufnahme erneut den Hofmeister mimt. Nicht den Bruchteil einer Sekunde fällt sie aus der Rolle der buckelnden, dabei stets auf den eigenen Vorteil bedachten Hofschranze – köstlich!

Szenenapplaus gibt es für die Bauernpaare im Wirtshaus – immerhin acht von zwölf Ensemblemitgliedern haben in dieser Rolle am Dienstagabend ihren ersten Auftritt (Rocio Aleman, Julia Bergua Orero, Heather Mac Isaac, Aiara Iturrioz Rico, Anouk van der Weijde, Ruiqi Yang, Fabio Adorisio, Robert Robinson). Ungerührt halten sie ihre grotesken Posen und Grimassen zu Beginn des zweiten Aktes, bis dann irgendwann doch die Musik anhebt. Gut gelaunt spielt das Staatsorchester Stuttgart unter Leitung von James Tuggle. Einen erfolgreichen Einstand gibt auch die Hofgesellschaft – fünf von acht Mitgliedern sind hier erstmals dabei (Ami Morita, Agnes Su, Elizabeth Wisenberg, Jesse Fraser, Pablo von Sternenfels).

Youtube-Star von Büchners Gnaden

Eine Freude ist das Wiedersehen mit Angelina Zuccarini als Leonces mit allen Wassern der Verführungskunst gewaschene Mätresse Rosetta, Damiano Pettenella als König Peter und Arman Zayzan als Valerio. Pettenella treibt dem Publikum die Lachtränen in die Augen, als er unter der übertriebenen Anteilnahme des Hofstaates angestrengt nachdenkt. Über was, spielt keine Rolle.

Dafür ist die Inszenierung dieser zur großen Schau aufgeplusterten, gedanklichen Inhaltslosigkeit einfach meisterhaft und findet ohne Musik statt. Was nicht weiter ins Gewicht fällt. Denn auch so vollführt der wunderbar täppische König Moves, die jeden Youtube-Star alt aussehen lassen. Arman Zayzan wiederum tanzt Valerio, mit dem Leonce vor Langeweile und Zwangsheirat flüchtet, mit umwerfender Verve, während ihm der Schalk aus allen Knopflöchern sprüht. Nichts von ihrer Frische eingebüßt haben bei alledem die humorvollen Kostüme und das einfallsreiche Bühnenbild von Emma Ryott.