Ostalgie im Schatten des Gaskessels, das alte Stuttgart und ein internationales Kuddelmuddel: Unser Autor hat sein Herz schon vor langer Zeit an den Ostendplatz verloren.

Stuttgart – Immer, wenn ich am Ostendplatz bin, komme ich mir vor wie in einem dieser weit im Norden oder Osten Londons liegenden Stadtteile. Jene ominösen Bezirke, von denen niemand je etwas gehört hat, bis Keira Knightley dort wieder munter den Wohnungsmarkt leerkauft und Ed Sheeran Pubs eröffnet. Bis sie durchgentrifiziert und unbezahlbar sind und dreimal die Woche einen Streetfood-Markt mit Techno-DJ abhalten. Hackney kommt, sagte man vor einiger Zeit zum Beispiel. Und bald darauf kam Hackney auch schon. Mit Banksy im Gepäck.

 

Der Ostendplatz kommt

Der Osten kommt auch. Sagt man seit 20 Jahren in Stuttgart. Es dauert eben alles ein bisschen länger hier, und das ist auch okay. Wir haben ja Zeit. Der Osten kommt. Oder eben nicht. Da ist er zumindest schon lange, der Osten. Und das vor allem am Ostendplatz. Ein Ort wie kein zweiter in Stuttgart, das hat er mit den von mir ebenso innig geliebten Orten Charlottenplatz und Stöckach gemeinsam. Er ist aber natürlich ganz anders, der Ostendplatz. Fast schon magisch in seiner Eigenschaft, den Duft des alten Stuttgarts mit einem Vielvölkerstaat zu verbinden.

Jubel seit 1974. Mindestens

Das echte Leben sucht der moderne Mensch gerne mal. Bis er es gefunden hat und gar nicht merkt, dass es längst da ist. Wer am Ostendplatz aussteigt, ist mittendrin. Im echten Leben. In einem Stuttgart, in dem die Geister der Vergangenheit längst zu Kosmopoliten geworden sind. Als ich vor vielen Jahren mal hier gewohnt habe, sah er noch ziemlich anders aus, der Platz. Also, die eine Hälfte sah anders aus, eine Videothek gab es da beispielsweise. Die andere Hälfte ist haargenau so geblieben.

Der Scheibenwirt zum Beispiel, gelegen direkt an der historischen Drehscheibe der Straßenbahn. Da wurde schon gejubelt, als Deutschland 1974 Weltmeister wurde. Geweint, als der VfB abstieg. Wie viele Orte in Stuttgart kennst du, die schon seit 50 Jahren stringent das gleiche Programm fahren? Bad Berg zählt nicht, das ist noch zu.

Immer Ostendplatz. Nie Berlin.

Menschen sagen ja manchmal, am Ostendplatz würde sich ein bisschen so anfühlen wie Berlin. Finde ich nicht. Ist viel sauberer dort. Und immer noch Stuttgart. Wo hast du in Berlin zum Beispiel eine abfallende Straße wie in San Francisco, an deren Ende ikonisch der Gaskessel im Morgendunst aufragt? Der Gaskessel erdet das Viertel mit seiner stoischen, trutzigen Ruhe. Erzählt von Industrie und Arbeit, ist Ankerpunkt wie der Eiffelturm in Paris.

Es ist ein bisschen wie das alte Stuttgart, das hier noch existieren darf. Cafés mit fast allem außer Kuhmilch gibt es mittlerweile auch hier, ebenso Eis in anderen Sorten außer Schoko, Vanille, Erdbeere. Aber der Rest ist eben irgendwie unangestrengt. Stehengeblieben. Als ob man insgeheim wüsste, dass sich der Westler eh relativ selten nach hier draußen verirrt. Und deswegen die Jogginghose gleich anbehält.

Nicht schön. Aber schön anders…

Sternstraße Ostendplatz. In jeder Richtung eine andere Perspektive. 1895 wurden in der früheren Arbeiterkolonie die ersten Mietshäuser gebaut. Kolonie Ostheim, schwäbischer Fleiß. Man muss kein Straßenpoet sein, um hier noch den Schweiß und die Träume der alten Arbeiter zwischen den Hauswänden flimmern zu sehen wie Chimären.

Heute gibt es am Ostendplatz wahrscheinlich mehr Ethnien als irgendwo anders in der Stadt. Entsprechend bunt, vielfältig, trubelig, durcheinander, kosmopolitisch geht es hier zu. Nicht immer friedlich, das ist schon klar. Aber dafür voller Leben. Voller echtem Leben? Muss wohl jeder selbst für sich entscheiden. Schön ist es hier nicht, zumindest nicht im klassischen Sinne. Aber dafür schön anders.