Die Akademie in Stockholm ehrt den französischen Schriftsteller Patrick Modiano mit dem Literaturnobelpreis. Dabei klingt der Schriftsteller so gar nicht nach jemandem, der auserkoren ist, nach höchstem literarischem Lorbeer zu greifen.

Paris - Das klingt so gar nicht nach jemandem, der auserkoren ist, nach höchstem literarischem Lorbeer zu greifen. Zumal diese Zeilen, in denen sich Patrick Modiano dem Leser als ein vom Schicksal wenig Begnadeter präsentiert, so sind wie all die anderen auch: schonungslos aufrichtig. „Ich wurde am 30. Juli 1945 geboren, in Boulogne Billancourt, Allée Margarite Nr. 11, als Kind eines  Juden und einer Flämin, die sich im Paris der Okkupationszeit kennengelernt hatten. Ich schreibe Jude, ohne zu wissen, was das Wort für meinen Vater wirklich bedeutete, und weil es damals in den Personalausweisen so vermerkt war. Bewegte Zeiten führen oft riskante Begegnungen herbei, sodass ich mich niemals als legitimer Sohn gefühlt habe und noch weniger als Erbe.“

 

Ein Heimatloser ist dieser Modiano also, einer, der nicht in seiner Familie wurzelt. Einer, der als Zwölfjähriger seinen zwei Jahre jüngeren Bruder durch Leukämie verloren hat. Einer, der dazu verdammt ist, zeitlebens umherzustreifen, zu suchen, was doch in der Kindheit für immer verloren ging. In seinen Romanen sind es Alter Egos, denen dieses Schicksal beschieden ist: Ich-Erzähler, die in nüchterner, fast karger und doch eleganter  Sprache seelische Abgründe abschreiten, Vergangenes frei legen, rekonstruieren. Was einen respektlosen Journalisten einmal zu der Frage verleitete: „Monsieur Modiano, haben Sie nicht das Gefühl, immer wieder dasselbe Buch zu schreiben?“ 

Aber Modiano wiederholt sich keineswegs. Stets sind es andere Protagonisten, andere Schicksale, andere Verluste, von denen der Leser erfährt. Und wenn der Sohn eines halbseidenen Geschäftsmannes und einer gescheiterten Schauspielerin am Donnerstag mit 69 Jahren den Literatur-Nobelpreis zugesprochen bekommen hat, dann, weil er diese Schicksale, die Suche nach Seelenfrieden, nach dem Eins-Sein mit sich selbst, „nach Identität“, wie es das Nobelpreiskomitee formuliert, vor autobiografischem Hintergrund so überzeugend nachzuzeichnen versteht. Als „Marcel Proust der Gegenwart“ hat ein französischer Literaturkritiker Modiano gerühmt.

Der verzweifelt Suchende

Als wolle er ein Gegengewicht zur inneren Verlorenheit schaffen, reicht Modiano mit der Gründlichkeit des Kartografen geografische Details, nennt Ortsteile, Plätze, Straßennamen, Hausnummern. Wer die vornehmlich durch Paris, aber auch durch Nizza, ja bis nach Berlin  führenden Streifzüge nacherleben will, braucht kein GPS.

Zumal in Paris gerät die Spurensuche im Nu zum Flaniervergnügen. Und Flanieren ist genau das, was der verzweifelt Suchende nicht will und vermutlich auch nicht kann. Leben heiße, „beharrlich einer Erinnerung nachspüren“, hat er einmal gesagt. Er selbst hat sich daran gehalten, hat sich als Schriftsteller ein halbes Jahrhundert darin geübt, hat es zur Meisterschaft gebracht. Für seine „ganz besondere Kunst des Erinnerns“ hat ihn das Nobelpreiskomitee ausgezeichnet.

Der Hang zur Genauigkeit beschränkt sich nicht aufs Geografische. Wer sich mit ihm auf Reisen begibt, eintaucht in Modianos melancholische Welt des Ungefähren, des Unbestimmten, mit ihm Vergangenes heraufbeschwört, Kindheitszeiten, den Zweiten Weltkrieg, die Nachkriegszeit, stößt inmitten des Angedeuteten immer wieder auch auf dokumentarisch Gesichertes: auf Zeitungsnachrichten, Polizeiprotokolle, Adressbücher.

Die Nazibesatzung lebt immer wieder auf

Die Akribie des Archivars scheint  Modiano unverzichtbares Gegengewicht zu „den vagen Dämmerzuständen“, die er so gern beschreibt. Im Lauf der Jahrzehnte haben sich Leitmotive herauskristallisiert, die nicht selten auch Motive des Leidens sind. Da ist etwa die Fahrt mit dem Vater im Polizeiwagen zum Revier. Im richtigen Leben hatte die Bitte des 18-jährigen Sohnes um bescheidenen Unterhalt in die letztlich auf der Wache endende Auseinandersetzung gemündet. Im literarischen Werk taucht die entwürdigende Fahrt hinter vergitterten Autofenstern von Neuem auf, variantenreich verfremdet.

Vor allem aber die Nazibesatzung lebt in  Modianos dreißig Romane zählendem Werk immer wieder von Neuem auf. Ob in „Villa Triste“ oder „Straferlass“ – die  von der offiziellen französischen Geschichtsschreibung lange Zeit zur kollektiven Résistance verklärte Besatzungszeit präsentiert Modiano auf seine Art: differenzierter, düsterer. Frankreichs geschichtsbewusster Staatschef François Hollande sieht in der Aufarbeitung der Besatzungszeit gar das herausragende Verdienst des Autors. „Er führt seine Leser bis in die tiefen Wirren der dunklen Besatzungszeit“, hat der Präsident anerkennend herausgestrichen.

Preise und Auszeichnungen sind dem bereits 1967 für sein Erstlingswerk „Place de l’Étoile“ Gefeierten nie besonders wichtig gewesen. Auf sie hat es der hochgewachsene, diskrete, fast schon menschenscheue Franzose am allerwenigsten abgesehen, wenn er sich an den Schreibtisch setzt. Modiano hat sie fast beiläufig entgegengenommen, ja angehäuft. Bereits 1978 erhielt er für seinen Roman, „Die Gasse der dunklen Läden“, was Kollegen als Krönung des Lebenswerks herbeisehnen: den Prix Goncourt, den bedeutendsten französischen Literaturpreis. Das Angebot, der altehrwürdigen Académie Francaise beizutreten, hat Modiano höflich abgelehnt. Der Rückzug in literarische Studierstuben ist nichts für ihn. Er muss weiter umherstreifen, weitersuchen. Er selbst sieht das so, spricht es offen aus, in dieser ihm eigenen schonungslosen Aufrichtigkeit. „Meine beständige Suche nach etwas Verlorenem, die Suche nach einer entschwundenen Vergangenheit, die sich nicht erhellen lässt“, hat er einmal gesagt, „ist Teil meiner Neurose.“