In 100 Tagen beginnen die Spiele in Großbritannien. Etwa 60 Athletinnen und Athleten aus Baden-Württemberg sollen dann dabei sein.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Stuttgart - Mit dem Medaillenspiegel ist das ja so eine Sache. Funktionäre finden ihn ziemlich doof, wobei das bisweilen auch davon abhängig ist, wie er so aussieht. Jedenfalls ist Hochleistungssport durchaus ein wenig komplexer, als es so eine Wertung auszudrücken vermag, und Leistung differenzierter als Gold, Silber, Bronze. Aber sie ist und bleibt halt doch ein grober Gradmesser für die sportliche Potenz. Nach Olympischen Spielen gibt es einen weiteren Medaillenspiegel: In dem wird das von deutschen Athleten gewonnen Edelmetall auf die 16 Bundesländer verteilt. In Peking 2008 holte das deutsche Team 16 Goldmedaillen – drei durch Athleten aus Baden-Württemberg (Matthias Steiner, Ole Bischof, Sabine Spitz); an einer vierten (Hockeymänner) waren Sportler aus dem Ländle beteiligt. 25 Prozent. „Das ist keine so schlechte Bilanz“, sagt Daniel Strigel, der Leiter des Olympiastützpunkts (OSP) Rhein-Neckar. „Wir stehen im Ländervergleich gut da.“

 

Ein olympischer Zyklus neigt sich dem Ende zu, eine Olympiade ist vergangen seit Peking. Es sind noch 100 Tage, ehe die Olympischen Spiele in London eröffnet werden, die vom 27. Juli bis 12. August ausgetragen werden. In den nächsten Tagen und Wochen stehen unzählige Qualifikationswettbewerbe an. Der Endspurt hat begonnen. Es geht um Normen, um Kriterien des Deutschen Olympischen Sportbundes. Der entscheidet am Ende in seinen drei Nominierungsrunden (31. Mai, 25. Juni, 4. Juli), wer tatsächlich nach London fährt. Um die 400 Athleten wird das deutsche Olympiateam umfassen. „Wir rechnen mit etwa 60 Athleten aus dem Land“, sagt Günther Lohre, der im Landessportverband Baden-Württemberg (LSV) für den Leistungssport zuständig ist.

Komplexe Förderung wegen vieler verschiedener Interessen

Darunter werden aller Voraussicht nach Athleten wie die 100-Meter-Sprinterin Verena Sailer (Mannheim) sein oder der Mountainbiker Manuel Fumic (Kirchheim), die Schwimmerin Silke Lippok (Pforzheim), die Turnerin Elisabeth Seitz (Mannheim) oder die Speerwerferin Christina Obergföll (Offenburg). Einige herausragende Sportler, und doch fragen führende Funktionäre im Land seit Jahren, warum es das große Flächenland nicht schaffe, eine noch größere Rolle im deutschen Sport zu spielen. „Wir bringen die meisten D-Kader-Athleten heraus“, sagt Lohre, „aber wir schaffen es zu selten, sie im Land zu halten.“ Die Deibler-Brüder Markus und Steffen aus Biberach etwa sind nach Hamburg abgewandert und feiern für die Hansestadt große Erfolge im Schwimmbecken. Der LSV hat deshalb vor Jahren schon die Initiative „Spitzensportland Baden-Württemberg“ gegründet. Die dümpelte lange vor sich hin, ohne Profil, ohne allzu großen Erfolg, ehe man sie nun wiederentdeckte und besser positionieren will. Lohre: „Wir wollen eine Marke entwickeln.“ Das Ziel: den Spitzensport im Land zu fördern, etwa durch Stipendien von Firmen, die sich im Sport bisher zurückhalten.

Spitzensportförderung ist komplex. Es gibt die Interessen der Fachverbände, der OSP, der Sportorganisationen, der Vereine. Das unter einen Hut zu bekommen, ist kompliziert. Das gilt ganz allgemein in Deutschland mit seinen dezentralen Strukturen – und das gilt eben ganz besonders für Baden-Württemberg mit seinem Konstrukt aus drei regionalen Sportbünden in den Landesteilen und einem übergestülpten Dach, dem LSV.

Der möchte wieder mehr Einfluss nehmen, was aber die regionalen Bünde wiederum nicht wollen. Vor allem geht es um die vier landsmannschaftlich paritätisch verteilten Olympiastützpunkte (Freiburg, Rhein-Neckar, Stuttgart, Tauberbischofsheim). So viele gibt es übrigens in keinem anderen Bundesland. Nach London soll die Struktur der Eliteeinrichtungen auf den Prüfstand kommen, wobei es das alle vier Jahre heißt – und vielleicht auch am wirklichen Thema vorbeigeht?

Leistungssport ist ein Subventionsbetrieb

Manch einem wird zu viel in Organigrammen und zu wenig praktisch gedacht. „Wir denken viel zu viel in Strukturen, aber wir sind keine Verwaltung“, sagt etwa Daniel Strigel vom OSP Rhein-Neckar: „Prinzipiell läuft es gut, man muss ja auch realistisch sein, was möglich ist im Hochleistungssport. Wenn man ein Problem suchen möchte, sind das nicht die Strukturen im Land, sondern ganz praktische, finanzielle Schwierigkeiten zum Beispiel. Bei Infrastruktur oder Athleten.“ Andere Bundesländer, zum Beispiel Nordrhein-Westfalen, würden sehr viel mehr Geld investieren.

Leistungssport ist ein einziger gigantischer Subventionsbetrieb – von einigen wenigen Athleten in geldintensiven Sportarten abgesehen. Das Gros ist beispielsweise auf die Deutsche Sporthilfe und die Sportförderung der Bundeswehr angewiesen – oder eben auf private Mäzene: Die Deutsche Bank etwa hat am Montag ihre Stipendien für 300 studierende Topathleten von bisher 150 auf 300 Euro monatlich erhöht. Überlebenswichtige Peanuts.

Gratwanderung zwischen Sport und Beruf

Ganz auf die Karte Sport zu setzen kommt für die meisten Athleten angesichts dieser Rahmenbedingungen deshalb kaum infrage. Sie sind auf einer Gratwanderung zwischen Sport und Beruf. Verena Sailer, die 100-Meter-Europameisterin und eines der sportlichen Aushängeschilder, sagt etwa: „Ich studiere seit 2009 Sportmanagement, um mich schon jetzt auf die Zeit nach der Karriere vorbereiten zu können.“

Eine andere Frage, die sich auch in Baden-Württemberg stellt: was und wen fördert man eigentlich? Deutschland ist ein Generalist, also eine Sportnation, die jeglichen olympischen Sport unterstützt. „Die Gießkanne ist für Sport nicht geeignet“, sagt Lohre. Je nach Verlauf der Spiele könnte diese Debatte Fahrt aufnehmen.

Olympiaserie Von nächster Woche an stellt die StZ in regelmäßigen Abständen potenzielle Olympiastarter aus der Region vor.