Walter Mugler hofft, dass es in der ehemaligen Garnisonsstadt noch Zeitzeugen gibt, die sich detailliert an Ereignisse des Zweiten Weltkriegs erinnern. Dann lasse sich die Geschichte der Deserteure endlich vollständiger erzählen, sagt der Heimatforscher.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)
Ludwigsburg Die Geschichte der Deserteure des Zweiten Weltkriegs treibt Walter Mugler seit Langem um. Und so hat er sich auch in der Garnisonsstadt Ludwigsburg auf die Suche nach deren Spuren gemacht – eine langwierige Suche.
Herr Mugler, die Kreuze auf dem Gräberfeld des Alten Friedhofs sagen nichts darüber, ob die Toten als Deserteure hingerichtet wurden oder im Krieg gefallen sind.
Es gibt überhaupt sehr wenige in Ludwigsburg, die das wissen. Ich bin eher per Zufall darauf gestoßen, als ich im Stadtarchiv recherchiert habe und bei den Akten des Garten- und Friedhofsamts Hinweise zu den Gräbern der Hingerichteten gefunden habe. Meine ursprüngliche Idee war, Deserteure über die Kriegsgerichtsurteile zu finden. Die Arbeit, das zeigt sich immer mehr, ist eine ziemlich aufwendige und langwierige. Da ist so gut wie nichts erforscht. Auch im Standardwerk zur Garnisonsstadt Ludwigsburg findet man zu Deserteuren maximal 15 Zeilen.

Es ist eigentlich ein naheliegender Schluss, dass es in einer Soldatenstadt auch Deserteursschicksale geben muss.
Ja. Es wird erwähnt, dass belgische und französische Soldaten in einer Nacht- und Nebelaktion erschossen wurden. Aber nur, dass es auch 29 deutsche Soldaten gab, die hingerichtet wurden. In einem aktuellen zweibändigen Werk zur Militärgeschichte hätte ich da mehr erwartet.

Was motiviert Sie, diese mühsame Recherche anzugehen?
Ich habe die Diskussionen in den 80er und 90er Jahren um die Anerkennung der Deserteure mit Interesse verfolgt und fand, dass es noch eines der Tabus des Zweiten Weltkriegs ist. Die Wehrmachtsausstellung hat mich zusätzlich motiviert. Auch weil niemand in der Garnisonsstadt Ludwigsburg etwas davon wusste. Aber es gab Hinweise. In den Streiflichtern der Verfolgten des Naziregimes (VVN) ging es um hingerichtete Deserteure. Darin war von einem Oßweiler die Rede. Er stammt aber aus Tschechien und wurde hier verurteilt, weil hier der Sitz eines Kriegsgerichts war – in der Flakkaserne in Oßweil.

Es gibt auch den Fall eines Neckarweihinger Bäckers. Was hatte er getan?
Er hat, als Dünkirchen schon eingeschlossen war, kundgetan, dass er nicht mehr an den Endsieg glaube und dass die Offiziere sich nun absetzen und die gemeinen Soldaten im Feld zurücklassen würden. Das hat gereicht. Das wurde verraten.

Wo wurde er hingerichtet?
In Dünkirchen. Aber seine sterblichen Überreste sind in Neckarweihingen beigesetzt worden. Auf dem dortigen Kriegerdenkmal steht sein Name neben den anderen.

Wenn es in Ludwigsburg ein Gericht gab, das Todesurteile ausgesprochen hat, muss es hier folglich auch Hinrichtungsplätze gegeben haben.
Ja. Hauptsächlich wurden die Verurteilten auf den Schießplätzen hingerichtet. Der eine war im Osterholz, wo heute die Disco Waldhaus steht. Der andere war unterhalb von Poppenweiler direkt am Neckar. Die Frage ist, wie wir von der Stolperstein-Initiative auf diese Plätze aufmerksam machen wollen, wenn dort nur ab und zu jemand vorbeikommt. In anderen Städten gibt es beispielsweise auch Stolpersteine für Deserteure. Einen solchen wollten wir für den Soldaten aus Neckarweihingen setzen. Er ist der einzige, den wir bisher kennen. Aber die Angehörigen wollen es nicht. Eine weitere lokale Geschichte recherchieren wir noch.

Wo suchen Sie?
Das ist schwer, weil es unterschiedliche Grade der Offenheit in den Archiven gibt. Seit vieles im Militärarchiv Freiburg liegt, ist auch bei den Gerichtsurteilen die Suche leichter. Insgesamt wurden entsprechende Urteile wegen Wehrkraftzersetzung oder Fahnenflucht in Ludwigsburg von den Feldgerichten der Divisionen 465 und 155 sowie von den Feldgerichten des kommandierenden Oberbefehlshabers und Generals der Luftgaue 5 und 7 gesprochen. Diese Einheiten waren aber nicht auf Dauer, sondern eben auch nur zwei, drei Jahre in Ludwigsburg. Es gab auch noch ein Militärarchiv der DDR, dessen Bestände jetzt in Freiburg sind. Dort sind die Fälle nach Delikten sortiert – also nach Fahnenflucht oder Wehrkraftzersetzung. Es wird noch dauern, bis man nach Gericht, Person und Delikt recherchieren kann. Und dann gibt es noch die Wehrmachtsauskunftsstelle Berlin, wo die vorhandenen Daten aller Soldaten liegen. Dort habe ich erst durch zwei Empfehlungsschreiben vom Ersten Bürgermeister und vom Staatsarchivchef Auskunft erhalten.

Aber alles Wissen nützt Ihnen nicht, wenn die Angehörigen es nicht veröffentlicht haben wollen.
Ja. Dann muss man es halt in anonymisierter Form als Lokalhistorie veröffentlichen.

Können Sie sich das Schweigen von Angehörigen im Jahr 2013 erklären?
Es gibt immer noch Menschen, die Dinge unter Verschluss halten wollen. Aber gleichzeitig leben wir ja auch in einer historisch einmaligen Situation, weil Menschen sich im Alter an ihre Kindheit erinnern und Verdrängtes vielleicht erinnern und erzählen wollen. Freunde, Altersgenossen oder die Neffen und Nichten. Vielleicht will ja jemand die Chance ergreifen, sich zu melden, nachdem er dieses Gespräch gelesen hat, weil er Erschießungen oder Ähnliches beobachtet hat.

Sie haben selbst mit einer Familiengeschichte gelebt, von der Sie lange nichts wussten.
Ja. Mein Schwiegervater hat mit seinem Kameraden, mit dem er sich gut verstanden hat, entschieden, dass sie in den letzten Kriegswochen nicht mehr ihr Leben lassen wollen. Beide haben sich in die Hand geschossen und sind ins Lazarett gekommen.

Das hätte auch schiefgehen können.
Ja, natürlich. 1945 wäre die Chance groß gewesen, erschossen zu werden. Mein Schwiegervater fand das nicht so spektakulär. Es war seine Art des Überlebens. Aber er hat davon erzählt. Für ihn war das nicht ehrenrührig.