Am Sonntag öffnet die Vesperkirche ihre Tore. Für viele Menschen – reiche wie arme – ist sie eine Gelegenheit, fremde Lebenswelten kennen zu lernen. Für manche wird auch mehr daraus.

Ludwigsburg - Man kann die Helfer fragen. Man kann die Besucher fragen, die wohlhabenden oder die armen, die alten oder die jungen. Oder man kann die Organisatoren fragen. An der Vesperkirche loben alle die „besondere Atmosphäre“, „das Miteinander“ und „den Austausch“. Seit fünf Jahren können im Rahmen der Veranstaltung jedes Jahr drei Winterwochen lang Menschen aus allen Schichten für wenig Geld in der Ludwigsburger Friedenskirche zu Mittag essen. Doch sie soll mehr sein als eine Insel, in der alle Gesellschaftsschichten kurze Zeit an einem Tisch sitzen.

 

Manchmal sei sie das auch, erzählt der Geschäftsführer der Ludwigsburger Diakonie, Martin Strecker. Immer wieder entstünden dort dauerhaftere Initiativen, und „für manche ist sie die Einflugschneise ins Ehrenamt“. Für andere freilich ist sie vor allem eine Gelegenheit, in ungewöhnlicher Umgebung mit ungewöhnlichen Menschen günstig zu speisen. Am Sonntag, 9. Februar, öffnet sie um 11.30 Uhr wieder ihre Pforten.

„Im Winter kommt man einfach nicht so raus. Es tut gut, sich in der Vesperkirche mit Leuten zu unterhalten“, sagt Kathrin Hüttig und reibt ihre schmerzende Schulter. Die 58-Jährige kann seit einem Unfall nicht mehr arbeiten. „Die Schulter wird immer schlimmer, und meistens sitze ich im Rollstuhl“, erzählt sie. Sie freut sich auf den Lichtblick in den grauen Wintermonaten ebenso wie die meisten anderen, mit denen sie gerade am Tisch im Café Vis à vis der Diakonie sitzt. Es sei eine Gelegenheit, neue Leute kennenzulernen und alte Bekannte zu treffen, erzählen sie.

Jeder am Tisch bringt seine Geschichte mit

Jeder am Tisch bringt seine eigene Geschichte mit, viele davon sind traurig: Da ist Hüttig, die sich auch mit einer Gehbehinderung plagt. Da sind ein Mann und eine Frau, die als Selbstständige scheiterten und sich jetzt mit dem Jobcenter mit viel Papierkram um wenig Geld herumstreiten. Da ist eine alleinerziehende Mutter, die nicht immer nur mit ihren Kindern zu Hause sitzen möchte. Nur ein Herzkranker, der vor einiger Zeit aus dem Gefängnis entlassen wurde, sagt, er gehe nicht in die Vesperkirche. „Zu viele Menschen. Zu viel Stress“, wehrt er ab.

Das Café Vis à vis, in dem sie alle nach dem Mittagstisch der Ludwigstafel zusammensitzen, ist selbst ein Kind der Vesperkirche. Die Ehrenamtlichen, die jeden Donnerstag anpacken, um Menschen mit sehr kleinem Geldbeutel noch einen Kaffeeklatsch, etwas Gemeinschaft und ein, zwei Ausflüge im Jahr zu ermöglichen, sind alle über die Vesperkirche zur Diakonie gestoßen – und wollten nach den drei Wochen dort mehr tun. Ute Marquardt ist eine von ihnen: „Das bunt Zusammengewürfelte, das macht den Reiz aus“, sagt die 59-Jährige.

Wenn um 15.30 Uhr die letzten Kaffeebecher geleert sind, schließt sich eine Sprechstunde der Diakonie an, in der sich Menschen in persönlichen oder wirtschaftlichen Notlagen aller Art Rat holen können. Eine Zeit lang hatten sich einige Vesperkirchen-Helfer laut Martin Strecker auch zu einer „Ämterbegleitgruppe“ zusammengeschlossen: Sie versuchten sich als Führer im Bürokratendschungel für Menschen, die sich auf dem Arbeitsamt, dem Jugendamt oder bei all den anderen Behörden noch verlorener fühlen als der Durchschnittsbürger.

Manche kommen zum Essen – und bleiben zum Helfen

„Die Gruppe ist inzwischen wieder etwas eingeschlafen“, sagt Strecker. Aber sie zeige doch, was aus der Vesperkirche alles entstehen könne. Ein anderes Beispiel sind die Mittagstische, die in immer mehr Kirchengemeinden gegründet werden. Dort bieten Ehrenamtliche zwei- bis viermal im Monat Essen für Bedürftige an. Die Initiative kommt nach Steckers Beobachtung oft von Menschen, die sich zuvor in der Vesperkirche engagiert haben. Mittlerweile gebe es im Kreis sechs bis acht solcher Angebote. Die Oase in Möglingen etwa feiere im März ihr fünfjähriges Bestehen. Die Helfer dort bringen 130 bis 170 selbst gekochte Mahlzeiten auf die Tische.

Strecker betrachtet die Vesperkirche deshalb als einen Ort, an dem sich Mitglieder der Kirchengemeinden und andere Menschen darauf besinnen könnten, dass sie das Klima in der Gesellschaft mitbestimmten. Für viele sei allein die Erkenntnis, dass es auch im reichen Ludwigsburg zunehmend Armut gebe, ein wichtiger Schritt. Die Bedürftigen, sie tauchten sonst ja kaum noch in der Öffentlichkeit auf, obwohl es immer mehr gebe. Doch natürlich weiß auch Strecker, dass längst nicht jeder, der einmal in der Vesperkirche zu Gast gewesen ist, zum ehrenamtlichen Sozialarbeiter wird. Er erwartet das auch gar nicht.

„Manche Leute wollen einfach kommen und essen“, sagt einer der Besucher des Diakonie-Cafés. Inzwischen erkenne er das an den eingezogenen Köpfen – und setze sich dazu, wenn ihm ebenfalls nach Schweigen zumute sei. Suche er Gespräche, setze er sich zu denen, die offen in die Runde blickten.

Doch die große Hoffnung auf dauerhafte neue Kontakte und neue Chancen hat der Mann aufgegeben. „Viele Leute, die sich dort mit einem unterhalten, wollen einen auf der Straße nicht mehr erkennen.“ Den Graben zwischen den Reichen und den Armen, den gebe es eben einfach, selbst wenn man gemeinsam zu Tisch sitze. „Inzwischen spüre ich rechtzeitig, wo die Grenze ist“, meint er.

Früher, als das noch nicht so gewesen sei, habe ihn einmal ein netter Geschäftsmann eingeladen, ihn in seinem Laden zu besuchen. „Ich bin ein paar Mal dort vorbeigegangen, aber ich bin nie reingegangen.“ Denn plötzlich sei ihm klar geworden, dass er und der Mann überhaupt kein gemeinsames Thema hätten: „Unsere Leben sind so verschieden – und mit meinen alten Kleidern konnte ich sowieso nicht rein.“

Mehr als nur ein Essen

Kulturprogramm
Die Vesperkirche beginnt am Sonntag um 10 Uhr mit einem Gottesdienst und endet am 2. März um 10 Uhr mit einem Abschlussgottesdienst. Geöffnet ist täglich von 11.30 bis 14 Uhr. Donnerstags um 19.30 Uhr gibt es Kultur: Am 13. Februar kommt das Theater Kabirinett mit der „Zauberflöte“ in die Friedenskirche, am 20. Februar spielt die Harmonika-Gemeinschaft Ludwigsburg Unterhaltungsmusik aller Art. Am 27. Februar ist zudem die Komödie „Lang lebe Ned Devine“ zu sehen.

Podiumsdiskussion
Am Dienstag, 18. Februar, um 19 Uhr wird es politisch. Dann diskutieren Bürgermeister, Wohnungslosenvertreter und Vertreter von Eigentümerverbänden, wie man mit der zunehmenden Wohnungsnot fertig werden kann.

Helfer
Der Preis von 1,50 Euro für ein Essen deckt nicht die Kosten. Deswegen darf jeder, der möchte, gerne mehr zahlen. Außerdem sind Spenden willkommen, insbesondere Kuchenspenden (Hotline: 01 76/75 21 50 57). Die Helfer bringen täglich etwa 500 Mittagessen und 40 selbst gebackene Kuchen unter die Leute. Pro Tag sind 60 Ehrenamtliche im Einsatz, 400 sind es insgesamt.

Immer mehr Menschen im Kreis hoch verschuldet

Zwar ist der Kreis Ludwigsburg im landesweiten Vergleich nach wie vor wohlhabend, dennoch ist die Zahl der verschuldeten Menschen erneut leicht gestiegen. Rund 32 100 Menschen haben Schulden, was einer Quote von 7,7 Prozent (Vorjahr: 7,5 Prozent) entspricht. Das geht aus dem Schuldenatlas hervor, den das Unternehmen Creditreform jedes Jahr deutschlandweit erhebt. Den Experten macht vor allem Sorge, dass die Zahl der hochverschuldeten Menschen, die kaum noch einen Weg aus der Krise finden, deutlich zugenommen hat: Im Kreis sind 17 600 Personen betroffen. Ihre Quote ist im Vergleich zum Jahr 2006 um 17,5 Prozent (2600 Fälle) gestiegen.

Zwar geht die Schere zwischen Arm und Reich nicht so weit auf wie in Stuttgart, dennoch gibt es deutliche Unterschiede. So sind die Bürger des Ludwigsburger Stadtteils Eglosheim nach wie vor die negativen Spitzenreiter, 12,9 Prozent sind hier betroffen (Vorjahr: 12,7). Ähnlich sieht die Situation in Ludwigsburg-Oßweil und Oststadt (12,2 Prozent) sowie Kirchheim am Neckar aus. Am niedrigsten ist die Zahl der Schuldner in Walheim (5,4 Prozent), Ludwigsburg-Hoheneck, Neckarweihingen und Poppenweiler (5,6) sowie Freudental (5,6).

Als Gründe für die Zunahme von Verschuldung nennen die Experten neben den Klassikern Arbeitslosigkeit, Krankheit und Trennung auch eine zunehmende Hilflosigkeit vieler Menschen bei ihrer privaten Finanzplanung. Insbesondere Jüngere kauften demnach häufig mehr, als sie sich leisten können. Die Experten fordern deswegen, das Thema Finanzplanung müsse ein Teil des regulären Unterrichts an allen Schulen werden.