Im Ludwigsburger MIK (Museum, Information und Kunst) sind zurzeit ältere Werke des chinesischen Künstlers Liu Bolins zu sehen. Im alten Kunstverein produziert er schon wieder neue.

Ludwigsburg - In den alten Räumen des Ludwigsburger Kunstvereins sind nur leise Stimmen zu hören, fast nur Wispern, unterbrochen lediglich von grellen Blitzen und dem wiederholten Klick eines Kameraverschlusses. Liu Bolin läuft zwischen Wandregal und Fotoapparat hin und her, prüft und mischt Farben, gibt mehr Weiß zum Grau hinzu, macht erneut Fotos und lässt den Rechner einen Farbabgleich machen. Und dann beginnt alles von vorn, denn das Schattengrau im Farbtopf stimmt noch immer nicht mit dem Grau der Schatten überein, die die Regalbretter werfen.

 

Der Künstler verschmilzt mit dem Hintergrund

Schritt für Schritt muss sich der chinesische Künstler an das perfekte Licht und die perfekte Farbgebung herantasten. Und nach den Schatten kommen die Tassen, Teller und Figurinen. Eine echte Sisyphusarbeit. Der Künstlerstar aus China hat seinen Aufenthalt in Ludwigsburg verlängert. Ursprünglich wollte er lediglich am Sonntag zur Vernissage ins MIK (Museum, Information, Kunst) kommen, doch dann hat er spontan beschlossen, noch ein paar Tage dranzuhängen, um in der Barockstadt zu arbeiten. Die Werke existieren vorerst nur in seinem Kopf, aber am Ende der gestern früh gestarteten ersten Aktion wird ein Foto stehen, das den Künstler vor einer Regalwand mit Ludwigsburger Porzellan zeigt. In einer zweiten Aktion will er vor einer Wand mit Zeitschriften und Zeitungen posieren. Die Krux dieser Kunst: Gestalt und Gesicht des Künstlers verschmelzen fast vollständig mit dem Hintergrund.

Doch bis dahin ist es ein weiter und mühsamer Weg, auf dem ihm viele fleißige Hände behilflich sein müssen. Im Fall der Ludwigsburger Performances sind kurzfristig vier Studentinnen aus den Klassen von Holger Bunk und Andreas Opialka an der Stuttgarter Akademie der Bildenden Künste eingesprungen. Eva Weingart, Sabrina Fuchs, Elisabeth Festl und Vivian Ruxton haben den Anstrich übernommen. Was sie machen müssen, ist eine verschärfte Version von Malen nach Zahlen: Der Overall wurde mit einem Koordinatensystem von etwa 100 Segmenten überzogen.

Camouflage als Politischer Protest

Damit hat sich der Künstler erstmals vor dem Regal fotografieren lassen. Was er mit seinem Körper verdeckt hat, muss mit Farbe auf den Anzug aufgemalt werden – im richtigen Farbton, mit allen Abschattungen und an der exakt richtigen Stelle. Zunächst machten die Kunststudentinnen mit schwarzem Edding die Ränder der Teller und Tassen kenntlich, bevor sie sich an die Zeichnung der Konturen machen konnten. Darüber verging der Nachmittag. Erst danach konnten sie mit dem eigentlichen Malen beginnen. „Vielleicht müssen wir auch noch eine Nachtschicht einlegen“, meinte Liu Bolin. Ganz sicher aber sollte der Anzug gestern noch fertig bemalt werden.

Das Porzellan wurde dem Kunstverein von der Ludwigsburger Manufaktur zur Verfügung gestellt. „Eine großartige Sache“, sagte Andrea Wolter-Abele, die künstlerische Leiterin des Kunstvereins. „Aber ich habe einen ganzen Tag gebraucht, um die Teile hier aufzubauen.“ Der Wert der Stücke ist beträchtlich: „Dafür könnte man schon ein kleines Einfamilienhaus bekommen“, sagt sie.

Ursprünglich hat Liu Bolin Bildhauerei studiert. Doch als die chinesische Polizei 2005 sein Atelier samt Skulpturen vernichtete, bemalte er sich mit der Farbe der Mauerreste und ließ sich so fotografieren. Aus Protest. Später hat Bolin diese Geste perfektioniert. Die Camouflage wurde zu seinem Markenzeichen, der Künstler gilt als Meister der Tarnung: Bolin „verschwindet“ auf sehr kunstvolle Weise in seinen Fotos.