Johanna hat dem Krebs die Stirn geboten. Jetzt will die Stuttgarterin mit Hilfe von "Fertiprotekt" ein Kind.

Stuttgart – Jetzt hatte ihre Freundin den Satz ausgesprochen und ihn wohl sofort wieder bereut. Denn sie schaut stumm auf die Straße. Konzentriert sich auf den dichten Feierabendverkehr. Johanna Schmidt (Name von der Redaktion geändert) ist ihr nicht böse deswegen. Was sagt man auch in solch einer Situation? Wahrscheinlich wollte ihre Freundin einfach nur die bleierne Stille durchbrechen, die sich im Wagen aufgebaut hat wie eine Wand, die keine Nähe zulässt. Unbedacht. Einfach so dahingesagt. Doch nun hallt es wider und wider in ihrem Kopf: „Ihr könnt' doch auch ein Kind adoptieren.“ Von der Rückbank schiebt sich die Hand ihres Mannes nach vorne und streichelt ihr über die Schulter. Johanna Schmidt drückt sie dankbar. Ihren Blick hat sie aber weiter ins undurchdringliche Dunkel neben der Bundesstraße gerichtet. Die Tränen rinnen der jungen Frau über die Wangen. Lautlos. Endlich. Den ganzen Tag über wurden sie zurückgedrängt von einem unsichtbaren Wall an Informationen, die auf sie niederprasselten wie eiskalte Hagelkörner. Bis sie ganz taub war vor Schmerz und nichts mehr fühlte, sondern nur noch funktionierte.

 

Seit wenigen Stunden hat die 35-Jährige nun Gewissheit. Die Ergebnisse der Biopsie hatten den Verdacht bestätigt, der sich aus den Röntgenaufnahmen und dem Ultraschall ergab. Sie hat Krebs. Mammakarzinom. Früh erkannt. Zum Glück. Seit Wochen hat sie ihn schon gespürt, diesen Knoten in der Brust. Doch sie redete sich ein, dass da nichts ist. Eine Zyste vielleicht. Völlig harmlos. Johanna Schmidt ist keine, die wegen jedem Zipperlein gleich zum Arzt rennt. Sie schiebt den Gedanken beiseite wie eine ihrer widerspenstigen blonden Locken, die ihr schmales Gesicht mit den vielen Sommersprossen einrahmen. Die Stuttgarterin möchte sich ganz auf ihre bevorstehende Hochzeit konzentrieren. Nichts soll ihr die Freude auf das Fest verderben.

Es wird ein wunderschöner Tag. Als Johanna Schmidt und ihr Mann Marc (Name von der Redaktion geändert) sich spät am Abend auf ihr Sofa kuscheln, spüren sie eine tiefe Dankbarkeit in sich. Dafür, dass alles so gut läuft mit ihren Familien, in ihren Jobs und mit ihnen beiden. „Ich hab‘ an diesem Abend zu meinem Mann gesagt, dass wir so unverschämt viel Glück haben, das kann doch nicht sein. Da kriegt man richtig Muffe, dass man bald was auf den Deckel bekommt.“

Zwei Wochen nach der Hochzeit die Diagnose: Brustkrebs

Im Nachhinein erscheint Johanna Schmidt das wie eine Vorahnung. Doch ausmalen, welche Lawine durch die Krebsdiagnose zwei Wochen nach ihrer Hochzeit ins Rollen gebracht wird, konnte sie sich freilich nicht. Die Ärzte in der Tübinger Universitätsfrauenklinik reden nicht um den heißen Brei herum. „Das fand ich gut. Mit so einer Weichspülertaktik, bei der ich erst nach und nach erfahre, was Sache ist, hätte ich nichts anfangen können.“ Gleich beim ersten Gespräch im Krankenhaus erzählen die Schmidts von ihrem Kinderwunsch. „Den werden Sie sich wohl kaum noch erfüllen können“, lautet die niederschmetternde Antwort. Danach folgt die schweigsame Heimfahrt mit dem Auto nach Stuttgart und der verhängnisvolle Satz von Johannas Freundin.

Zuhause bricht die 35-Jährige, die bis dahin alle Untersuchungen klaglos über sich ergehen ließ und versuchte, dem „beschissenen Krebs“, wie sie sagt, mit Galgenhumor die Tour zu vermießen, heulend zusammen. „Ich wollte doch so gerne sehen, wie etwas aus uns beiden entsteht“, sagt sie schluchzend zu ihrem Mann.

Für Marc Schmidt beginnt eine schwierige Gratwanderung. Die Sorge um seine Frau bringt ihn schier um. Er will, dass sie wieder gesund wird. Wenn das geht. Der Gedanke an ein Kind scheint ihm jetzt so weit weg wie der Mond. Vor allem dann, wenn eine Schwangerschaft das Leben seiner Frau gefährden könnte. „Gleichzeitig habe ich aber gespürt, dass wir für Johannas Psyche alles tun müssen. Damit sie mit einem guten Gefühl in die Behandlung gehen und kämpfen kann.“ Die Schmidts haben Glück. In der Universitätsfrauenklinik Tübingen sind die einzelnen Fachbereiche eng miteinander vernetzt. Nachdem feststeht, dass Johanna Schmidt nach der Operation eine Chemo- sowie eine Antihormontherapie machen muss, wird ihr ein Termin in dem zur Universitätsfrauenklinik gehörenden Kinderwunschzentrum vermittelt. Die leitende Oberärztin für Endokrinologie und Reproduktionsmedizin, Barbara Lawrenz, klärt sie über die Chancen und Risiken auf, sich trotz der Chemotherapie, die die Eizellen zerstören und somit zur Unfruchtbarkeit führen kann, später ihren Kinderwunsch zu erfüllen. „Mir platzte fast der Kopf, von all den Fragen, die darin kreisten“, erzählt Johanna Schmidt. „Doch mit der ruhigen und dennoch nichts beschönigenden Art von Dr. Lawrenz kehrte etwas Ruhe in den Wirbelsturm ein.“

Weil Johanna Schmidts Tumor auf Östrogene anspricht, die ihm Nahrung geben und somit zum Wachsen bringen können, wurden bei ihr nach der Chemotherapie die Eierstöcke mit Medikamenten in eine Art Winterschlaf versetzt, wie es Dr. Lawrenz ausdrückt. Die Ärztin ist im Leitungsteam des 2006 von dem Reproduktionsspezialisten Professor Michael von Wolff und dem Biologen Professor Markus Montag gegründeten Netzwerks „Fertiprotekt“. Rund 70 Kliniken und Kinderwunschzentren in Deutschland, Österreich und der Schweiz sind hier zusammengeschlossen. In Stuttgart gehört das Krankenhaus Bad Cannstatt neben zwei privaten Einrichtungen zum Netzwerk. „Das bedeutet geballtes, vielfach potenziertes Wissen rund um den Schutz der Fruchtbarkeit bei Frauen und Männern mit einer Krebserkrankung“, sagt Johanna Schmidt. „Dass sich Spezialisten bei Fertiprotekt regelmäßig über die neuesten Erkenntnisse zum Thema austauschen und mit vereinten Kräften forschen, hat mir ein gutes Gefühl gegeben.“

Die Idee zur Gründung des Netzwerks kam den Medizinern auch deshalb, weil immer mehr Frauen im gebärfähigen Alter an Krebs erkranken. Rund 17.000 junge Krebspatientinnen sind es laut der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe jährlich in Deutschland. „Dass die Überlebensrate bei einer Krebserkrankung steigt und die Frauen immer später mit der Familienplanung beginnen, lässt die Nachfrage nach fruchtbarkeitsschützenden Maßnahmen steigen“, erklärt Dr. Lawrenz. Allein im Jahr 2010 sind innerhalb des Netzwerks „Fertiprotekt“ 539 Frauen behandelt worden. Die Stimulation mit Hormonen und die anschließende Entnahme und Kryokonservierung von unbefruchteten und befruchteten Eizellen vor der Chemotherapie wird dabei am meisten angewandt. „Das ist das Standardverfahren der normalen Kinderwunschtherapie, weshalb wir hierbei auch die meisten Erfolge erzielen“, erklärt Dr. Lawrenz. Immerhin eine 20-prozentige Chance auf eine Schwangerschaft bestehe bei jeder Reimplantation der aufgetauten Eizellen in die Gebärmutter.

Eierstockgewebe züchten, wird bald möglich sein

Die operative Entnahme und das Einfrieren von Eierstockgewebe ist eine weitere Methode, um die Fruchtbarkeit trotz Chemo- und Strahlentherapie zu erhalten. „Hier stehen wir noch am Anfang. Aber dass immerhin weltweit mit Hilfe dieser Methode 16 Geburten gemeldet wurden, spricht auch für den Erfolg des Netzwerks.“ In einigen Jahren sei es dank der gemeinsamen Forschungsarbeit wohl sogar möglich, Eierstockgewebe im Reagenzglas heranzuzüchten, meint Dr. Lawrenz. Durch die flächendeckende Arbeitsweise von „Fertiprotekt“ können alle Betroffenen vor Therapiebeginn ein aufklärendes Gespräch mit einem Reproduktionsmediziner führen. Auch jene, die mit einer sehr schlechten Prognose in dasIVF-Zentrum der Universitätsfrauenklinik zu Dr. Lawrenz kommen und wohl die Geburt eines Kindes nicht mehr erleben werden. „Dann bin ich zurückhaltender in meiner Beratung. Aber ich würde zu keiner Patientin sagen, dass eine Behandlung unnütz ist.“ Über allem stehe jedoch immer das Ziel, dass die Frau wieder gesund wird. „Dem wird der Erhalt der Fruchtbarkeit untergeordnet“, erklärt Dr. Lawrenz.

Bei Leukämie-Patientinnen etwa drängt die Zeit. Meist muss sofort nach der Diagnose mit der Chemotherapie begonnen werden. Zudem seien oft sehr junge Frauen von dieser Krebsart betroffen. „Wie soll sich denn eine 20-Jährige, die um ihr Leben kämpft, Gedanken über ihre Familienplanung machen und noch dazu unter höchstem Zeitdruck?“, erklärt Dr. Lawrenz das Dilemma, in dem die jungen Frauen stecken. Zudem hätten die wenigsten von ihnen bereits den Partner fürs Leben gefunden, mit dem sie sich die Gründung einer Familie vorstellen könnten. „Dabei verspricht aber das Einfrieren befruchteter Eizellen wesentlich mehr Erfolg, als das unbefruchteter.“ Auch das Auftauen würden erstere zu 90 Prozent unbeschadet überstehen.

Behandlung zum Selbstkostenpreis

Patientinnen mit Lymphomen oder Brustkrebs sitzen Dr. Lawrenz am häufigsten in Beratungsgesprächen gegenüber. Zwei bis vier Wochen bleiben diesen Frauen meist, um eine Entscheidung zu fällen. Johanna Schmidt und ihr Mann haben befruchtete Eizellen einfrieren lassen. Die vorherige Stimulation mit Hormonen wurde zwar sehr hoch dosiert, aber in einem sehr kurzen Zeitraum durchgeführt. „Um zu verhindern, dass mein Tumor wächst, denn der spricht eben auf Hormone an.“ Rund 2500 Euro mussten die Schmidts für die Behandlung bezahlen. Für das Einfrieren und die Lagerung der befruchteten Eizellen im Vorkernstadium für ein Jahr betragen die Kosten nochmals 250 Euro. Für jedes weitere Jahr wird eine Lagerungsgebühr von 100 Euro fällig. Manchmal erstattet die Krankenkasse einen Teil der Kosten. „Wir behandeln zum Selbstkostenpreis“, erklärt Dr. Lawrenz. „Denn ein Ziel des Netzwerkes ist es, nicht an den Frauen zu verdienen.“

Beruhigt und mit dem Gefühl, alles getan zu haben, was möglich ist, hat Johanna Schmidt anschließend ihre Chemotherapie begonnen. Erfolgreich kämpft sie sich durch die Tortur. Danach muss sie eine Antihormontherapie machen. Fünf Jahre lang sollte diese dauern. Denn in diesem Zeitraum nach der Erstdiagnose treten Rückfälle am häufigsten auf. „Es ist wie eine Art Kastration. Es findet kein Eisprung mehr statt. Die Blutung bleibt aus und von einem Tag auf den anderen bin ich mit 35 Jahren in die Wechseljahre gekommen“, erinnert sich Johanna Schmidt. Das durch die Tumoroperation ohnehin angeknackste Selbstbewusstsein leidet durch den vorzeitigen Verlust der Fruchtbarkeit noch mehr. „Ich fühle mich oft nicht mehr als richtige Frau und in meiner Altersgruppe manchmal außen vor. Ich habe Hitzewallungen und sonstige Nebenwirkungen mit denen sich meine Freundinnen nicht rumschlagen müssen und somit nicht viel anfangen können.“ Stattdessen bekommen diese Kinder, tingeln durch die Welt oder bringen ihre Karrieren voran.

Johanna Schmidt kommt es dagegen vor, als ob sie mit angezogener Handbremse auf der Autobahn des Lebens unterwegs ist. Sie steigt nach OP und Chemo zwar sofort wieder in ihren Beruf ein. Ist aber vorsichtiger geworden, hat ihre oft Zwölf-Stunden-Arbeitstage reduziert und macht auch privat nur noch selten die Nacht zum Tag. „Die Krankheit lässt dich leise treten. Oft ist da doch die Angst, durch zu viel Stress etwas, das bedrohlich schlummert, wieder aufzuwecken.“ Mit ihrem Schicksal zu hadern, ist jedoch nichts für sie. „Ich bin so happy darüber, dass ich leben darf. Es hört sich schwülstig an, aber es stimmt. Ich war schon immer ein positiver Mensch und habe alles in mich aufgesaugt. Seitdem ich krank war, kann ich noch mehr als zuvor auch kleine Freuden genießen.“

"Was, und da wollt ihr noch ein Kind?"

Der Kinderwunsch ist beim Kampf gegen den Krebs in den Hintergrund gerückt. Doch mit zunehmender Kraft kehrte er wieder zurück. Johanna Schmidt hat mittlerweile zwei Jahre Antihormontherapie hinter sich gebracht. Bald feiert sie ihren 38. Geburtstag. Auch ihr Selbstbewusstsein ist wieder da. Mit ein Verdienst ihres Mannes Marc, wie sie schmunzelnd sagt, der ihr jeden Tag damit in den Ohren liege, wie toll sie sei. Jetzt kann Johanna Schmidt auch wieder jenen die Stirn bieten, die sie anstarren, wenn sie ihre Geschichte erzählt und ungläubig fragen: „Was, und da wollt ihr noch ein Kind?“ Eine Zeit lang haben sie solche Äußerungen in tiefe Gewissenskonflikte gestürzt. Hatten sie und Marc sich doch auch schon den Vorwurf gemacht, egoistisch zu sein, zu viel zu wollen. Was ist, wenn ich in ein paar Jahren einen Rückfall erleide, sterbe und Marc allein mit dem Kind zurück bleibt? Wenn das Kind schon früh seine Mutter verlieren muss? Nein, dachte Johanna Schmidt, mit solch einer Hypothek belastet, kann man keine Schwangerschaft anstreben. Dadurch laden wir zu viel Schuld auf uns.

Mittlerweile entgegnet sie den ewigen Skeptikern mit trotzig vorgerecktem Kinn, dass auch ein heute vermeintlich gesundes Paar nicht wissen kann, was das Schicksal für es bereit hält. Voll Optimismus haben sie daher erneut einen Termin mit Dr. Lawrenz vereinbart. Der Onkologe hat bereits grünes Licht gegeben – eine unverzichtbare Voraussetzung für die Kinderwunschspezialistin um die nächsten Schritte einzuleiten. Johanna Schmidt darf es wagen, bereits nach zwei Jahren die Antihormontherapie zu unterbrechen. „Schließlich werde ich auch nicht jünger“, sagt sie lachend. Zwar ist ihre Krebserkrankung keine Gefahr für das ungeborene Leben. Doch die möglichen Komplikationen während einer Schwangerschaft steigen mit zunehmendem Alter bei Johanna Schmidt wie bei jeder anderen Frau auch. Der vorzeitige Abbruch der Therapie verschlechtert nach bisherigen Erkenntnissen ihre Prognose aber genauso wenig, wie eine Schwangerschaft, bei der bekanntlich massenhaft Östrogene ausgeschüttet werden. Untersuchungen haben gezeigt, dass Frauen, die nach einer Brustkrebserkrankung schwanger werden, sogar bessere Überlebenschancen haben. „Das mag daran liegen, dass sich nur die Frauen für ein Baby entscheiden, die sich wieder fit fühlen“, sagt Dr. Lawrenz. „Zudem ist anzunehmen, dass sich auch die Freude über das Kind positiv auf den Krankheitsverlauf der Patientin auswirkt.“

Johanna Schmidt kann es nach dem Mut machenden Gespräch mit der Ärztin kaum erwarten, die Medikamente abzusetzen, die ihren Zyklus unterdrücken. „Dann müssen wir schauen, ob sich auf natürlichem Weg etwas tut“, sagt die Stuttgarterin. „Falls nicht, haben wir immer noch unsere auf Eis gelegte Reserve“, sagt sie lachend. Ein Baby würde für sie auch das Ausrufezeichen hinter dem Ja zum Leben bedeuten. „Aber wenn es nicht klappt“, sagt Johanna Schmidt und nimmt dabei ihren Mann Marc in den Arm, „dann haben wir beide viele andere Träume und Pläne. Und natürlich uns. Das ist das Wichtigste.“

Adressen, Tipps und Informationen

Beratung: Kinderwunschzentrum der Universitätsfrauenklinik Tübingen; Zusammenschluss mehrerer, spezialisierter Kliniken unter "Fertiprotekt"

Allgemeine Informationen: Deutsches Krebsforschungszentrum; Krebsinformationsdienst

Broschüre zum Thema "Kinderwunsch nach Krebs" zum Download unter: www.krebshilfe.de/fileadmin/Inhalte/Downloads/PDFs/Blaue_Ratgeber/049_kinderwunsch.pdf