Stuttgart/Bikendrik Island - Das Paradies am Ende der Welt war weit entfernt vom Donnerhall der Raketen, die sein Leben geprägt hatten, aber irgendwie auch nicht weit genug. Eine Geschichte wie seine schüttelt man nicht aus den Kleidern, wobei Lutz Kayser zuletzt eher selten welche trug auf Bikendrik Island, einer Insel, die er gepachtet hatte. Er lebte dort gemeinsam mit seiner Frau Susanne Kayser-Schillegger. Die beiden waren im pazifischen Raum, zwischen Hawaii und Neuseeland, bekannt: Die Einheimischen nannten sie Adam und Eva, weil sie ihr Faible für die Freikörperkultur offen zur Schau trugen.
Lutz Kayser war zeitlebens keiner für die gängigen Kleidergrößen. Er war ein Macher, einer zwischen Genie und Wahnsinn, zwischen Aufstieg und Absturz. Würde man sein Leben in einem Drehbuch zusammenfassen, wäre es vermutlich als unglaubwürdig durchfallen. Geheimdienste, Diktatoren, Raketen – so etwas gibt es für gewöhnlich nur im Kino. Lutz Kaysers biografischer Film war kinoreif, aber real.
Schon als Gymnasiast interessierte sich Kayser fürs Fliegen
Rückblende. Am 17. Mai 1977 bohrt sich die erste Otrag-Rakete fast 15 Kilometer in den blauen Himmel über Zaire. Sie ist sechs Meter hoch, achtzig Zentimeter dick und sieht aus wie ein Ofenrohr. Der Stuttgarter Ingenieur Lutz Kayser spricht danach vor der Presse wenig bescheiden von einem großen Schritt für die Menschheit. Er glaubt an sein Projekt, er glaubt an den Zugang zum Weltraum, der bald vielen offen stehen würde, er glaubt an ein Milliardengeschäft – und vor allem glaubt er an sich selbst.
Angefangen hat es eher bescheiden in Stuttgart. Der junge Kayser interessiert sich schon als Gymnasiast für Hochfliegendes. An der Stuttgarter Universität hebt er als 17-Jähriger die Arbeitsgemeinschaft für Raketentechnik und Raumfahrt aus der Taufe. Zu seinen Lehrern gehört Eugen Sänger, der im Krieg an der Entwicklung geheimer Langstreckenraketen beteiligt war, Vorläufer der US-Cruise-Missiles. Nach seinem Ingenieur-Examen gründet Kayser 1970 in Stuttgart die Technologieforschungs GmbH, laut Handelsregister auf Raumfahrttechnik spezialisiert. Ein Jahr später bewilligt ihm das Bonner Forschungsministerium 3,5 Millionen Mark für die Entwicklung eines neuartigen Triebwerks. Auf dem Prüfstand der Deutschen Forschungs- und Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt wird es getestet. Sein Konzept sei „grundsätzlich durchführbar“, attestieren Gutachter. Das verleiht Raketenbauer Kayser den nötigen Schub.
Die Tür zum Kapital
Mitte der 70er Jahre gründet der Nachwuchskonstrukteur die Orbital Transport und Raketen AG (Otrag). Als Aufsichtsratsvorsitzenden gewinnt er einen berühmten Mann: Kurt Debus, bis 1974 Chef des amerikanischen John-F.-Kennedy-Raumfahrtzentrums der Nasa in Cape Canaveral. Debus öffnet die Türen zum Kapital. Um an das nötige Geld zu kommen, lockt das Unternehmen mit einer Abschreibungsgesellschaft. In der FAZ schaltet die Otrag eine Anzeige, in der es heißt: „Die bisherigen Raketenentwicklungen beweisen immer wieder aufs Neue, dass Hunderte von Millionen Mark deutscher Steuergelder vom Staat vergebens in Projekte gepumpt werden. Bei der Otrag können Sie in ein Trägerraketenprojekt investieren, das privatwirtschaftlich finanziert wird und Ihnen Verlustzuweisungen von 240 Prozent für dieses Jahr erbringt.“
Auf eine solche Gelegenheit warten viele. In Stuttgart und München gehen schon bald Schecks von steuermüden Bundesbürgern ein, die das schwäbische Raketenprojekt hoch- und sich selbst finanziell weiterbringen wollen. Nachdem das Kapital fließt, ist der Weg für Kayser frei – vorausgesetzt, er findet Gelände für Raketentests.
Zu Hause ist daran in Zeiten des Eisernen Vorhangs nicht zu denken. Deutschland wird auf internationaler Bühne misstraut. Nach den Deutschland-Verträgen von 1955 ist es verboten, im Gebiet der Bundesrepublik militärisch verwendbare Raketen und Triebwerke herzustellen. 1975 klopft Kayser bei Mobutu Sese Seko in Zaire, dem heutigen Kongo, an. Der Diktator empfängt ihn zum Gespräch in seiner Villa. Es dauert nicht lange, bis der eitle Potentat vom „afrikanischen Cape Kennedy“ begeistert ist und davon, mithilfe moderner Satelliten in jeden kleinsten Winkel seines Reichs blicken zu können.
Die Otrag testet schließlich auf einem riesigen Gelände und gerät so in den Fokus der Weltpolitik. Der Firmengründer, völlig unbeleckt in Politik, wird plötzlich von Geheimdiensten beobachtet.
„Gewehrlauf, der auf die Länder Afrikas zielt“
Die Aktivitäten der Firma haben erhebliche Turbulenzen in den auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik zur Folge. Zaires Anrainer wie Angola, wo sich die Russen eingerichtet haben, befürchten, Kaysers Geschosse seien mehr auf sie als ins All gerichtet. Nicht nur die Sowjetunion wittert dahinter geheime, durch internationale Verträge streng verbotene Raketenexperimente der Bundesrepublik. „Otrag – Deckfirma für BRD-Rüstungsexporte“, titelt das SED-Organ „Neues Deutschland“. Der angolanische Ministerpräsident Lopo Fortunato do Nascimento bezeichnet die Rakete in einer Rede vor den Vereinten Nationen als „Gewehrlauf, der auf die Länder Afrikas zielt“. Es geht hoch her. „Die Otrag treibt einen nuklearen Pfeil in das Herz der friedliebenden Völker Afrikas“, heißt es in der russischen Zeitung „Iswestija“. Außenminister Hans-Dietrich Genscher ist höchst beunruhigt: „Der außenpolitische Schaden ist so groß, dass in jedem Fall etwas unternommen werden muss.“
Die Bundesregierung sieht sich mit heftigen Protesten afrikanischer Staaten konfrontiert, und Leonid Breschnew, Partei- und Staatschef der UdSSR, spricht das politisch heikle Thema bei einem Staatsbesuch im April 1978 persönlich an. Die Otrag bringt selbst den besonnenen Kanzler Helmut Schmidt in Rage. Er wünscht die Stuttgarter Firma nicht nur „zum Teufel“, sondern gibt auch wenig Schmeichelhaftes über den Firmenboss Lutz Kayser zu Protokoll: „Ich könnte dem Kerl den Hals herumdrehen.“
In solchen Fällen schlägt die Stunde der Diplomatie. Die Bundesregierung drängt das verschuldete Zaire, die deutsche Firma Otrag aus dem Land zu werfen. Kayser glaubte bis zuletzt, Kanzler Schmidt habe den Afrikanern millionenschwere Entwicklungshilfe in Aussicht gestellt, wenn sie den Vertrag mit Otrag kündigen. Binnen weniger Wochen müssen die Schwaben das Gelände räumen. Dabei kommt es zu einem tragischen Zwischenfall. Kurz vor dem Abzug unternehmen die Techniker noch einen Bootsausflug auf dem reißenden Fluss Luvua. Aus ungeklärter Ursache kentern sie. Sieben Otrag-Mitarbeiter ertrinken, zwei stammen aus Markgröningen.
Gaddafi richtet Kayser ein luxuriöses Testgelände ein
Firmenchef Kayser ist geschockt. Nicht nur über den Unfall, sondern vor allem über seine Regierung, die ihn aus Zaire vertrieben hat. Er will sich sein Lebenswerk nicht zerstören lassen und sucht fieberhaft nach einem anderen Startgelände, egal wo. Bei der Auswahl seiner Gesprächspartner ist er nicht wählerisch. Kayser wird bald fündig, 600 Kilometer von der libyschen Hauptstadt Tripolis entfernt, in Tauwiwa. Dort richtet der Diktator Muammar al-Gaddafi den deutschen Ingenieuren ein als Obstplantage getarntes Testgelände ein, in dem es an nichts mangelt. Sogar ein See wird künstlich angelegt, damit sich die Deutschen im Raketencamp beim Planschen entspannen können. Schon damals hatte Kayser ein Faible fürs Kleiderlose.
Die Tests bleiben wieder nicht unbemerkt. Diesmal allerdings ist, weltpolitisch betrachtet, die andere Seite in heller Aufruhr. Der amerikanische Geheimdienst CIA sieht Gaddafi mit Raketen auf den Westen zielen. „Eine ernste Gefahr für den Frieden“ fürchtet auch der ägyptische Außenminister Kamal Hassan Ali.
Sosehr die Stuttgarter Ingenieure versichern, dass ihre Rakete nicht für militärische Zwecke tauge, weil sie nur für den Weltraumtransport entwickelt worden sei, so wenig überzeugend klingen ihre Argumente in den Ohren der Regierenden. Schließlich muss Kayser auch in Libyen die Segel streichen. Er arbeitet zunächst noch einige Jahre in Tripolis, ehe er sich eine Insel im Pazifik pachtet, wo er fast schon als Einsiedler abgeschieden von der Welt lebt. Was seine Firma betrifft, vertrat er immer eine klare Haltung, wenn man ihn fragte: „Hätte der arrogante Kanzler Schmidt die Otrag nicht politisch abgewürgt, wären wir heute erfolgreich im Markt mit einem jährlichen Milliardenumsatz.“
Die letzten Jahre auf Bikendrik Island
Seit 2005 lebte Kayser zurückgezogen, vielleicht auch versteckt, auf Bikendrik Island, einer kleinen Insel des Marshall-Atolls, wo er gemeinsam mit seiner Frau Susanne Kayser-Schillegger ein kleines Ferienresort mit drei Zimmern betrieben hat. Der Filmemacher Oliver Schwehm, der seit drei Jahren an einem Film über Lutz Kayser und die Otrag arbeitet, hat ihn dort zuletzt im Februar 2017 besucht, über vier Tage hin ausführlich interviewt und die ambivalente Persönlichkeit näher beleuchtet. Der Film, der von Radio Bremen, SWR und Arte koproduziert und von der MFG, dem Filmbüro Hamburg und Nordmedia gefördert wird, kommt im Frühjahr 2018 unter dem Titel „Fly Rocket Fly! – Mit Macheten zu den Sternen“ in die deutschen Kinos.
Lutz Kayser hatte Herzprobleme. Das nächste Krankenhaus war eine Stunde mit dem Boot entfernt. Er wusste, dass er an diesem Ort mitten im Pazifik enden würde. Er starb am Nachmittag des 19. November im Beisein seiner Frau an der Folgen eines Infarkts. Lutz Kayser, der ewige Raketenmann, wurde 78 Jahre alt.
ARD, 23.30 Uhr, "Fly Rocket Fly - die Raketenträume des Lutz Kayser"