Lutz Seiler legt seinen ersten Roman vor: „Kruso“ erzählt vom Ende der DDR aus dem entlegensten Winkel der entlegenen Insel Hiddensee – und steht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Die StZ-Kritikerin Julia Schröder hat das Buch gelesen.

Stuttgart - Eduard Bendler hat es knapp geschafft, den Absprung nicht zu machen. Fast hätte er der Verlockung der Tiefe, des Sturzes ins Nichts nachgegeben. Stattdessen ergreift der Student die Flucht aus der von Braunkohle und Buna gezeichneten Universitätsstadt, die Flucht vor der Erinnerung an den Unfalltod seiner Freundin G., die Flucht auch vor seiner Gedichtesucht, vor den poetischen „Beständen“, die ihm den Kopf füllen. Er findet sich wieder als Abwäscher auf der Insel Hiddensee. Es ist der Frühsommer 1989.

 

Lutz Seiler, geboren 1963 im thüringischen Gera, versammelt eine zwölfköpfige Gemeinschaft aus Kellnern, Küchen- und Tresenkräften rund um die Titelfigur Alexander „Kruso“ Krusowitsch, eine Art Tafelrunde am „Persotisch“ der Ausflugsgaststätte Zum Klausner auf den Klippen hoch über der Ostsee, in die der verlorene Ed sich ohne Zögern einfügt. Die meisten dort sind, wie er, „eigentlich“ etwas anderes und irgendwann aus der sozialistischen Einklassengesellschaft hinausgefallen. Der charismatische Kruso hat die „Esskaas“ (für SK wie „Saisonkraft“) der Insel zu einer Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger verflochten – wobei mit „Schiffbrüchigen“ Bürger der DDR gemeint sind, die an deren entlegenstem Ufer die Freiheit suchen. Wie sich nach und nach enthüllt, nimmt Kruso sich dieser Sehnsüchtigen an und unterzieht sie einem schamanistischen Ritual, in dem sie statt der äußeren die innere Freiheit gewinnen, „den letzten Ort der Freiheit innerhalb der Grenzen“.

Er hat Gründe, dies zu tun: Seine ältere Schwester Sonja war einst vor den Augen des kleinen Bruders hinausgeschwommen in die Ostsee und von ihrem aussichtslosen Fluchtversuch nie zurückgekehrt, wie so viele, deren Andenken dieser Roman auch gewidmet ist.

Genossen im Bund der Poesie

Kruso nimmt Ed unter seine Fittiche, weiht ihn in die Geheimnisse des Klausner und der sagenumwobenen Insel ein, bald werden die beiden Traumatisierten Freunde – und Genossen im Bund der Poesie. Der junge Germanistikstudent, ausgeliefert den Versen der Dichter, zumal des Expressionisten Georg Trakl, erschließt sich im Tagebuch seine inneren Quellen unter dem Abraum des Gelernten: „Sobald Ed etwas Eigenes schrieb, mit eigenen Worten, führte er den Stift gegen das Summen der Bestände in seinem Kopf, wie einen Hobel über die Halde, dachte Ed, oder durch die Halde hindurch; ja, es war doch mehr eine Bohrung, er schrieb und bohrte auf etwas zu, auf G. vielleicht, auf sich selbst, auf einen großen freien Raum, eine helle Bucht mit Wind, wo er stundenlang das sandige Ufer entlangging, mit stummem Schädel und kühlen Schläfen, die Füße überspült vom Saum des Meeres . . .“

Kruso wiederum, der Sohn eines Sowjetgenerals und einer Artistin, aufgezogen von einem Strahlenmediziner auf der Insel und zuweilen selbst wie ein erfindungsreicher Schiffbrüchiger wirkend, gewinnt aus seiner wechsel- und schmerzvollen Kindheitsgeschichte Gedichte von klassischem Ebenmaß.

Die Wirklichkeit als Vexierbild

Lutz Seilers Anfänge liegen in der Lyrik, das machte sich schon in den sprachlich hochverdichteten, verzweigte Räume des Nachhalls und der Schau eröffnenden Erzählungen seines mehrfach ausgezeichneten Prosabandes „Die Zeitwaage“ (2009) bemerkbar. An diesem, seinem ersten Roman ist das nun auf der langen Strecke zu beobachten. Seilers Erzählen atmet wie die See, es spiegelt Natur, Empfindung und Geschichte ineinander und macht das Durchscheinende der Dinge, die Wirklichkeit als Vexierbild wahrnehmbar. Das fügt sich zu Bildern von betörender Schönheit, etwa dem der dänischen, also unerreichbaren Insel Mön im Licht der untergehenden Sonne, „eine Brücke aus Gold über das in massiven, schiefergrauen Wellen gehende Wasser“, verschweigt aber nicht die Härte des Daseins im unterweltlichen Abwasch, zwischen schleimigen Tellerresten und stinkendem Spülicht. Dennoch ist jede derbe Alberei, jede Banalität, jede Gemeinheit, aller Schmutz bereit zur Verwandlung in ein glänzendes Rätsel.

Dem kleinen Radiogerät Viola in der Küche des Klausner mit seinem leisen Dauerstrom des Deutschlandfunks vergleichbar, fungiert als verborgener Verstärker die Belesenheit des Erzählers und seiner Figuren. Neben Trakl und anderen im Nachwort genannten „Beständen“ wie Peter Huchel, Gottfried Benn („Uran, Pechblende, Isotop 235. Weit hinabreichende Neurose!“), Defoes „Robinson Crusoe“ oder Dostojewski klingt Uwe Johnsons „quer über die Gleise“ an, ebenso Wolfgang Hilbigs Heizer-Höllen . . . Einer der Kellner wird Rimbaud genannt; er bezieht seltene und kostbare Ausgaben von Werken der Weltliteratur von seinem „Buchdealer“ und murmelt im dicksten Gewühl der mittäglichen Stoßzeit: „Ruhm, wann kommst du?“ Ed erlebt in diesen Monaten in Ultima Thule nicht nur eine Erziehung der Sinne und des Gefühls, sondern auch ein Summercamp des Bildungswissens.

Es bröckelt der Steilhang, es bröckelt der Staat

Was so beweglich, so veränderlich, so auf dem Sprung ist wie die Welt der kleinen Rettungsgesellschaft im Klausner auf Hiddensee, ist zutiefst gefährdet. Als auf dem Festland, scheinbar so fern, der Staat in sich zusammenbricht, bleibt auch auf dem schmalen Streifen aus Sand, bröckelnden Steilhängen, Kiefern, Bunkern und Betonplattenwegen nichts, wie es so lange war. Die Tafelrunde löst sich auf. Aber Ed schafft es wieder, den Absprung nicht zu machen, und die Freundschaft von Ed und Kruso hat ihre schwerste Prüfung zu durchleben, bevor die Schiffe der Sowjetflotte den letzten Salut schießen.

„Kruso“, eine Geschichte von Liebe, Verlust, Verrat und Tod, erzählt vom Ende der DDR als dem Ende einer Welt – mit den Mitteln, die in dieser Welt Überlebensmittel waren: denen der Poesie, der Einbildungskraft, der Erfindergabe. Im Augenblick seines Untergangs beginnt das „Ländchen“ (wie Sarah Kirsch es nannte) an den Rändern zu strahlen, „ein untermeerisches Leuchten und gleißende Reflexe, gerade so als könnte Vineta in jedem Moment die Oberfläche der Ostsee durchstoßen, auftauchen im Raum wie eine dritte Kraft, ein dritter Ort, der alle Spiegelungen beenden würde, ein für alle Mal“. Wer ein Vierteljahrhundert nach der „Wende“ immer noch auf der Suche nach dem „großen Wenderoman“ ist, könnte hier bei Lutz Seiler, in dieser kleinen Welt, fündig werden.