Nach dem Schlag des FBI gegen die Cosa Nostra blüht der Mafia-Tourismus. Spaziertouren erinnern an die "gute alte Zeit" der Mafia.

Reportage: Akiko Lachenmann (alm)
Bei Eric Ferrara klingelt ständig das Telefon, seit bekannt ist, dass das FBI außer Terroristen auch wieder die Mafia im Visier hat. 127 Gangster hatten die Behörden vor rund einem Monat im frühen Morgengrauen festgenommen, zum Erstaunen vieler New Yorker, die dachten, der Stern der Cosa Nostra sei längst gesunken. Eric Ferrara gehört zu den wenigen, die nicht überrascht waren. Trotzdem halte er sich mit Kommentaren zurück, sagt der 40-jährige Historiker und Mafia-Experte. "Zu gefährlich."

Ferrara erzählt lieber von den Anfängen der Cosa Nostra, von "der guten alten Zeit", wie er ironisch zu sagen pflegt. Seit Jahren bietet er Spaziertouren für Touristen durch die Lower East Side von Manhattan an, der einstigen Hochburg der italienischen Mafia. Seiner Biografie nach ist er dazu prädestiniert. Ferrara hat sizilianische Vorfahren und ist in Little Italy aufgewachsen. Vincent Gigante, ein hochrangiger Mafiaboss, wandelte seinerzeit in der Nachbarschaft in Bademantel und Badeschlappen herum – er wollte für verrückt gehalten werden, um nicht strafrechtlich verfolgt zu werden. Auch John Gotti, damals Boss der Gambino-Familie, die ihren Hauptsitz in der Mulberry Street hatte, war in dieser Gegend zu Hause.

Ferrara kennt die Nachfahren der Mafiosi persönlich. Auf Fotos sieht man ihn Arm in Arm mit Henri Hill, dessen Leben im Mafia-Drama "Good Fellas" verfilmt wurde. Womöglich kennt Ferrara auch jene, die bis heute im Geschäft sind. Zumindest musste er "um Erlaubnis fragen", um die Anekdoten über die Cosa Nostra touristisch verwerten zu dürfen.

Erste italienische Mafia-Familie in Now York gründete sich 1892


Die Tour beginnt vor einer Weinhandlung im Westen der Lower East Side. In dem Gebäude habe sich im Jahr 1892 die Morello-Familie begründet, die erste italienische Mafia-Familie in New York, erzählt Ferrara. Ihre unmittelbaren Nachfahren arbeiten heute unter dem Namen Genovese. Die Familie ist die größte der fünf New Yorker Familien, die anderen heißen Bonanno, Colombo, Gambino und Lucchese. Aus allen fünf Familien gingen dem FBI Mitglieder ins Netz.

Während Ferrara Anekdoten über ihre Vorfahren erzählt, sitzen die Mafiosi von heute ein paar Meilen entfernt in Haftanstalten in Brooklyn ein. "Die meisten werden wieder entlassen", glaubt Ferrara. So sei es immer gewesen. Für Ferrara gibt es einen moralischen Unterschied zwischen damals und heute. Er schildert den beschwerlichen Alltag der eingewanderten Sizilianer und stellt fest: "Früher hatte man kaum eine Wahl."

Wer um die Jahrhundertwende ein Geschäft in der Lower East Side eröffnete, erhielt sofort eine Geldforderung von einer Gang und kurz darauf die zweite von einer anderen. Man stand vor der Wahl: entweder man schuftet, bleibt arm, behält aber eine saubere Weste, oder man ist reich und ein Verbrecher ohne lange Lebenserwartung. "Viele entschieden sich für letzteres, auch um den Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen", sagt Eric Ferrara.

Elfjähriger verlangte Schutzgeld von seinen Klassenkameraden


Seine sensationslustigen Gäste erfahren von ihm alles, was sich in seinem Viertel vor den Neunziger Jahren ereignet hat, etwa über den Mordanschlag auf Joe Masseria, den Boss der Bosse, der direkt vor seiner Haustür von den eigenen Leuten angeschossen wurde. Oder über die frühe Karriere von Lucky Luciano, der bereits als Elfjähriger von seinen Klassenkameraden Schutzgelder verlangt haben soll.

Nach 1992 endet jedoch Ferraras Auskunftsbereitschaft, genau gesagt mit der spektakulären Verhaftung des Gambino-Bosses John Gotti. Auch in den Medien findet man nur spärliche Informationen über die Zeit nach 1992. Die Cosa Nostra tauchte von da an noch tiefer in den Untergrund ab. Sie soll ihren Schwerpunkt bewusst auf weniger Aufsehen erregende Bereiche wie Sportwetten oder Kreditgeschäfte verlegt haben. Nur selten zogen die Mafiosi die Aufmerksamkeit der Medien auf sich.

So wie im Jahr 2007, als der "Underboss" der Colombo-Familie John Franzese von einem Barbesitzer nach alter Sitte ein monatliches Schutzgeld von 1500 Dollar forderte. Diese Vorgehensweise war längst nicht mehr üblich. Man munkelt, Franzese hätte wegen seines hohen Alters nicht mehr gewusst, in welcher Mafia-Ära er sich befindet. Der Barbesitzer wandte sich ans FBI, nachdem er von Franzeses Leuten verprügelt worden war. Franzese erhielt mit 93 Jahren eine achtjährige Haftstrafe.

Feine Hüte und breitkrempige Hüte sind heute ausgemustert


Dieser Vorfall sei die Ausnahme, sagt Ferrara. Die Mafia meide jede Publicity. Feine Anzüge und breitkrempige Hüte wurden ausgemustert. Der Mobster von heute gehört optisch eher der breiten Unterschicht an. Titel wie "Boss" und "Underboss" dienten allenfalls zum Ablenken von den wahren Strippenziehern, verrät Ferrara. Die wichtigen Entscheidungen würden nicht mehr einzelne, sondern kleine Gremien treffen.

Das schreibt auch Mafiaexperte Selwyn Raab in der New York Times. Er warnt davor, zu glauben, die Mafia stünde nun vor dem Aus. Was die Italiener von der chinesischen und russischen Mafia unterscheide, sei ihr streng hierarchischer Aufbau, der schon vor 80 Jahren Gültigkeit hatte. "Scheidet jemand aus, steht immer Ersatz bereit", schreibt Raab. Der letzte Feldzug des FBI werde einfach eine neue Mafia-Generation hervorbringen. "Es wird immer gierige Menschen geben, die das Risiko langer Gefängnisstrafen für ein kurzes Leben in Luxus in Kauf nehmen", so Raab.

Ferraras Tour endet im Caffé De Robertis, ein in vierter Generation geführtes italienisches Café, in dem seit Jahrzehnten Mafiosi die Köpfe zusammen stecken. Viele wurden hier verhaftet. In den dreißiger Jahren dienten die Hinterräume als Hauptquartier des größten Glücksspiel-Rings im Lande. Ferrara schüttelt der Chefin die Hand. Sie bedankt sich aufs Herzlichste, wahrscheinlich für die Gäste, die er ihr bringt. Der Kaffee kostet fast fünf Dollar. Bei anderen Touren würde man sich fragen, ob alles mit rechten Dingen zugeht. Nicht aber auf einer Gangster-Tour.