Fast auf den Tag genau vor 50 Jahren, am 21. Februar 1965, ist Malcolm X auf offener Bühne erschossen worden. Der Mord an dem radikalen US-Bürgerrechtler ist noch immer nicht aufgeklärt. Sebastian Moll befragt Werner Sollors, Professor in Harvard, nach der Rolle von Malcom X.

Stuttgart - Fast den Tag genau vor 50 Jahren, am 21. Februar 1965, ist Malcolm X auf offener Bühne erschossen worden. Der Mord an dem radikalen US-Bürgerrechtler ist noch immer nicht aufgeklärt. Sebastian Moll befragt Werner Sollors, Professor für Afroamerika-Studien an der Harvard Universität, welchen Einfluss Malcolm X auf die US-Gesellschaft hatte und hat.
Professor Sollors, wer war Malcolm X?
Malcolm X war in erster Linie ein sehr charismatischer Redner. Jeder, der Aufnahmen seiner Reden hört, wird verstehen, warum er die Menschen fasziniert hat.
Was hat an seiner Botschaft so begeistert?
Malcolm X hat viele Klischees der Bürgerrechtsbewegung scharf angegriffen. Die Bürgerrechtsbewegung des Martin Luther King hatte ihre Basis im ländlichen, religiösen Süden. Malcolm X hat dem die Perspektive und den Tonfall des industriellen, urbanen Nordostens entgegengesetzt. King saß in Atlanta, Malcolm X sprach die Menschen in Chicago und New York an.
Vor seiner Konversion zum Islam war Malcolm X ein typischer afroamerikanischer Kleinkrimineller. Mit diesem Hintergrund konnten sich die Menschen in den Städten besser identifizieren als mit dem Südstaatenprediger King.
Ja, das ist richtig. Man muss aber auch sagen, dass Malcolm X niemals den gleichen Massenappeal hatte wie King. Es gab nie eine wirkliche Malcolm-X-Bewegung. Er hat viele Einzelne angesprochen, aber zum Zeitpunkt seiner Ermordung hatte er keine große Anhängerschaft.
Warum ist er denn dann als historische Figur so bedeutsam? In den Spike-Lee-Filmen wird er immer auf Augenhöhe mit King gezeigt, so als wären King und X die beiden Köpfe, die für alternative Wege standen – den gewaltfreien und der militanten.
Das ist bestimmt überzogen. X war gar kein Vergleich mit King. Aber Malcolm X hat viele Intellektuelle und Schriftsteller fasziniert, weil er Dinge gesagt hat, die vorher unsagbar erschienen. Vor Malcolm X haben Schwarze sich beispielsweise nicht getraut, sarkastisch und bissig zu sein, da hat er einen ganz neuen Ton angeschlagen. Er hat für Afroamerikaner Dämme gebrochen, was die freie Meinungsäußerung angeht. Er war der Archetyp des zornigen Schwarzen, der die Dinge beim Namen nennt und die Höflichkeiten über Bord wirft.
Sie sprechen die Radikalisierung der Bürgerrechtsbewegung an. War Malcolm X mehr Produkt dieser Radikalisierung, oder hat er sie vorangetrieben?
Die Bürgerrechtsbewegung hat immer für das Ende der Segregation gekämpft. Mit der De-Segregation waren aber auch Ängste vor Assimilation und Identitätsverlust verbunden. Malcolm X betritt in dem Augenblick die Bühne, in dem die Bürgerrechtsbewegung eigentlich gewonnen hat, in dem Präsident Johnson die Bürgerrechtsgesetze durchsetzt und die rechtliche Rassentrennung aufgehoben ist. Plötzlich ist Integration eine echte Möglichkeit. Malcolm X spricht die Ängste davor an, indem er sich gegen Assimilation und schwarzen Identitätsverlust wendet.
In seiner Autobiografie ist die Besinnung auf die schwarze Identität und die afrikanischen Wurzeln, das Ablegen des Sklavennamens und die Konversion zum Islam als „schwarze“ Religion der entscheidende Punkt.
Ja. Interessant an der Autobiografie ist allerdings auch, dass sie einer traditionellen amerikanischen Formel folgt. Ein einschneidendes Erlebnis führt zur spirituell-religiösen Transformation und macht den Helden zu einem anderen. Am Anfang war Malcolm Little ein Sünder, ein Verblendeter und einer, der nach den Regeln des weißen Mannes lebt. Dann kommt er zum Islam, es öffnen sich ihm die Augen, und er wird zum stolzen Afroamerikaner.
Welche Rolle hat denn der Anti-Assimilations-Gedanke nach Malcolm X in der Bürgerrechtsbewegung gespielt?
Das war vor allem spielerisch. Es hat sich vor allem in Gesten ausgedrückt, wie der Afrofrisur, der Annahme afrikanisch klingender Namen, dem Tragen afrikanischer Gewänder. Aber auch die Namensänderung hat ja nie bedeutet, dass man die US-Identität vollkommen ablegt. Malcolm X wollte niemals auswandern oder Ähnliches. Eher hat er eine Internationalisierung angestrebt, eine Identifikation mit anderen Befreiungsbewegungen.
Malcolm X hat die Situation der Afroamerikaner mit der Situation der Juden im Nationalsozialismus verglichen.
Er hat den Vergleich als Argument dafür verwendet, dass jede ethnische Minderheit ein eigenes kulturelles Territorium beanspruchen sollte. Die Juden im Nationalsozialismus waren laut Malcolm X zu assimiliert, um sich effektiv wehren zu können. Für Malcolm X bedeutet Assimilation die Gaskammer. Das war eine sehr wirkungsvolle Metapher.
Hat Malcolm X der Sache letztlich mehr geschadet, als sie voranzubringen?
Es gab insbesondere unter schwarzen Intellektuellen eine starke Schuld-Reaktion auf die Ermordung von Malcolm X. Die Tatsache, dass er dafür umgebracht wurde, Tabus gebrochen zu haben, hat die Leute aufgerüttelt. Es gibt in dem Theaterstück „Pig Pen“ von Ed Bullins eine Szene, die während einer gemischtrassischen Party in Kalifornien spielt. In die Party hinein platzt die Nachricht vom Tod von Malcolm X, und plötzlich fragen sich die anwesenden Schwarzen, was sie hier eigentlich zu suchen haben. Sie fühlen sich als Assimilationisten und verlassen sofort das Haus.
Die Ermordung von Malcom X war also für die Entwicklung der Bürgerrechtsbewegung bedeutsamer als sein Wirken zu Lebzeiten?
Die Ermordung hat die Bürgerrechtsbewegung langfristig gespalten, im Grunde bis zur Wahl von Obama, als erstmals wieder eine breite Koalition zusammenkam. Es war ab der zweiten Hälfte der 60er Jahre nicht mehr möglich, radikale Schwarze und Weiße zusammenzubringen. Das bringt die Szene im Malcolm-X-Film von Spike Lee sehr gut zum Ausdruck, in der eine weiße Studentin Malcolm X fragt, was sie denn tun könne und er ihr trocken ins Gesicht sagt: „Gar nichts.“
Wie sehen Sie denn die Koalition, die heute gegen Polizeigewalt auf die Straße geht?
Die Ereignisse haben viele Leute auf die Straße gebracht, aber das Ziel ist immer rückwärtsgerichtet. Es geht um die Entscheidung einer Jury, einen Fall nicht aufzunehmen. Die Bürgerrechtsbewegung hingegen war immer vorwärtsgewandt. Es ging darum, das Gesetzwerk abzuschaffen, das Segregation unterstützt hat, und eine Gleichberechtigung in allen Bereichen der Gesellschaft durchzusetzen, Bildung, gleiche Löhne, und so weiter. Ich sehe da heute keine große Vorwärtsbewegung.
Spielt denn das Gedankengut von Malcolm X für die heutige Generation noch eine Rolle?
Es gab rund um den Film von Spike Lee ein kurzes Revival. Aber die große Figur aus dieser Zeit, die bleibenden Einfluss hat, ist Martin Luther King. Malcolm X ist eher eine Inspiration für Intellektuelle. Einen wirklichen politischen Einfluss hat er heute nicht mehr.