Ulf Bräutigam hat 2008 das von den Technischen Werken der Stadt Stuttgart zwischen 1898 und 1900 errichtete Gebäude am Neckarufer erworben. Seitdem lebt er im „größten Wohnzimmer der Stadt“, wie der Bürgermeister Jan Trost formuliert.

Marbach - Zweifelsohne besitzt das ehemalige Wasserkraftwerk am Marbacher Neckarufer eine außergewöhnliche Schönheit. Es erforderte in jener Sommernacht vor rund 15 Jahren allerdings den Blick hinter die Fassade, um diese auch zu erkennen. Denn das Gebäude lag bereits seit geraumer Zeit still. Die Landschaft drum herum war verwildert. Und am Gemäuer hatte nicht nur das Wetter seine Spuren hinterlassen. „36 Tonnen Hausmüll lagen in der ehemaligen Turbinenhalle“, sagt Ulf Bräutigam, der das zwischen 1898 und 1900 errichtete Kraftwerk im Jahr 2008 von der EnBW erworben hat.

 

Die Annäherungsversuche an das Gebäude beschreibt Ulf Bräutigam fast wie eine Liebesgeschichte. Mit Freunden habe er damals im nahe gelegenen Biergarten den Abend verbracht. Als er seinen Blick umherwandern ließ, blieb dieser an diesem Bauwerk hängen. „Immer und immer wieder musste ich einfach hinschauen.“ Die Tischgespräche hat er da längst nur noch als unverständliches Gemurmel wahrgenommen. Ulf Bräutigam war im wahren Sinne des Wortes elektrisiert.

Ulf Bräutigam begrüßt das Gebäude mit „Hallo Kraftwerk“

Mittlerweile lebt der ehemalige Murrer seit sechs Jahren „im größten Wohnzimmer Marbachs“, wie der Bürgermeister Jan Trost die 25 Meter lange ehemalige Turbinenhalle einst nannte. Wie persönlich Ulf Bräutigams Bindung zu seinem großteils eigenhändig restaurierten Zuhause ist, zeigt sich auch daran, dass er es beim Heimkehren mit „Hallo Kraftwerk“ begrüßt.

Den Weg bis zum Kauf des Gebäudes beschreibt er als „das Allerschönste“. Viele Menschen mussten indes erst von der Idee überzeugt werden, eine Industrieruine zu bewohnen. „Und das ist mir gelungen“, berichtet Bräutigam stolz. Obwohl ihn einige vor dem Denkmalschutz gewarnt hätten. „Bis heute habe ich nur sehr gute Erfahrungen mit dem Regierungspräsidium gemacht“, berichtet Bräutigam. Dass damals der Konservator Norbert Bongartz sein Ansprechpartner bei der Landesbehörde war, dafür ist er heute noch „so unendlich dankbar“. Das Vertrauensverhältnis der beiden Männer sei groß gewesen und es war wohl nicht nötig, dem Beamten die eigenen Wünsche aufzuoktroyieren. „Ich habe ihm nie gesagt, was ich will, sondern nur Fragen gestellt.“ Dank der Expertise des Kunsthistorikers ist so „am Ende mehr erhalten geblieben als gefordert war“.

Dazu gehören zum Beispiel die in den Boden eingelassenen Stahlabdeckungen, „die ich hätte zubetonieren dürfen“. Aber dann wäre der Klang nicht mehr zu hören gewesen, den auch „die Jungs gemacht haben, als sie vor fast 120 Jahren durch diese Halle gegangen sind“.

Namenlose Männer haben den Strom geliefert

„Die Jungs“, das sind 16 Männer, die von Marbach aus den ersten Strom nach Stuttgart geliefert haben, um dort zum Beispiel die Straßenbahn zu bewegen. Aufgereiht zwischen blitzblank geputzten Turbinen stehen sie stolz im Anzug und mit Hut in der Kraftwerkshalle. Die Fotografie, die Ulf Bräutigam in seinem Wohnzimmer ausgestellt hat, stammt vermutlich aus den Anfangsjahren des Kraftwerks. „Der Eichenholzrahmen um den Schaltschrank fehlt noch“, hat Bräutigam bemerkt.

Die Männer auf der Aufnahme sind für ihn namenlos. Vor dem, was sie geleistet haben, hat der Marbacher jedoch größten Respekt. „Sie hatten einen Sinn für Details.“ So ziert eine geschnitzte Aphrodite, die Göttin der Liebe und der Schönheit, die Holzeinlassung um die Schalttafel. Und wer könnte es anderes sein: an allen vier Ecken des Gebäudes hat der Meeresgott Poseidon sein wachsames Auge auf das Geschehen gerichtet. „Es ist meine innere Pflicht, diesen frühen Baumeistern gerecht zu werden“, nennt Bräutigam einen Grund für seine zurückhaltende Restaurierung.

Seit 2008 arbeitet Ulf Bräutigam jeden Tag ein klein wenig daran, seinen Traum zu verwirklichen. Und noch immer entdeckt er Neues. „Es gibt so viele Feinheiten hier“, sagt er. Um diese zu erkennen, braucht es vielleicht die Liebe zu dem Gebäude und seiner Geschichte. Die alten Wandhalter, die für Reinigungsgeräte, Rechen, Köcher und Schläuche aus der Wand ragen, hätten andere womöglich einfach als störend empfunden und herausgerissen. Auch hätte sich nicht jeder die Mühe gemacht, die alten Fenster mit Rahmen aus Eichenholz zu erhalten. Eigenhändig hat Bräutigam sie abgebeizt und frisch eingelassen, statt auf die ebenfalls angebotene Möglichkeit einzugehen, neue Kastenfenster einzusetzen. Das aber hätte viel von dem Charme des alten Gemäuers zerstört.

Auf 800 Quadratmetern gibt es keinen Lieblingsort

Schlimm genug für den Spezialisten im Fahrzeugleichtbau, dass wohl die vier Francis-Turbinen verloren sind, nach denen er schon so lange sucht. „Das Gebäude wurde 1938 stillgelegt. Möglich, dass die Turbinen eingeschmolzen und zu Waffen wurden“, bedauert Bräutigam. Erhalten geblieben sind hingegen ein 16-Tonnen-Kran, die Schaltwand und einige Umformer. Besonderer Schmuck aber in der Kathedrale der Technik ist die an einer Ecke erhaltene Ornamentmalerei mit Seerosen.

Grobe Industrieanlagen und filigranste Elemente treffen im Zuhause des Technikfreaks immer wieder aufeinander. Nicht als Widerspruch, sondern in Harmonie. Davon zeugt die Südwand des Gebäudes, die ein Fenster, eine Tür und die Schaltwand beherbergt. „Das ist nach dem goldenen Schnitt angeordnet“, ist Bräutigam noch immer fasziniert. In dem mehr als 800 Quadratmeter Platz bietenden Gebäude könne er darum auch keinen Lieblingsort ausmachen. „Wo immer man steht, ergeben sich ganz neue Blickachsen“, schwärmt der Hausherr. Dabei ist es ein Zufall, dass Ulf Bräutigam heute in einer ehemaligen Industrieanlage wohnt. „Gesucht habe ich eher ein altes Bauernhaus“, erzählt er. Dass in dem jetzigen Zuhause „früher einfach nur gearbeitet wurde und keine Familientragödien passiert sind“, passt dafür ziemlich gut in das Weltbild des 51-Jährigen. „Das Kraftwerk ist für mich eine Insel des Friedens, auf der Ärger nichts zu suchen hat.“

Das Gebäude hat etwas Sakrales

Besucherströme wird es im Kraftwerk wohl keine geben. „Ich werde es nicht öffnen“, sagt der Konstrukteur. Mit vielleicht einer Ausnahme: „Das Gebäude hat ja etwas Sakrales an sich. Und dann trage ich auch noch den Namen Bräutigam – ich überlege mir, ob man hier nicht Hochzeiten feiern können sollte.“

Die Kraftwerksgeschichte

Historie
Das Wasserkraftwerk im Marbacher Mühlenviertel ist von 1899 bis zur Kanalisierung des Neckars im Jahr 1938 in Betrieb gewesen. An der Stelle des ehemaligen Kraftwerkskanals verläuft heute die Umgehungsstraße. Ab 1938 wurde ein neues Laufwasserkraftwerk mit zwei Turbinen auf dem Gelände der EnBW, wenige Kilometer vom alten Standort entfernt, errichtet. Die 1941 in Betrieb genommene Anlage ist eine von heute 24 Wasserkraftwerken der EnBW am schiffbaren Neckar.