Beim Marbacher Ferienzauber vor dem Jugend-Kultur-Haus planet-x dürfen sich die 150 Kinder auf dem Gelände frei bewegen und tun was sie wollen. Und das funktioniert?

Volontäre: Maximilian Kroh (kro)

Schon der Bus am Marbacher Bahnhof ist am Donnerstagmorgen um kurz nach 9 Uhr voll gepackt mit Kindern. Sie alle sind mit Rucksäcken ausgestattet, haben bunte Bändel um den Hals hängen, an denen folierte Karten baumeln, auf dem Kopf tragen die meisten Basecaps. Ein bisschen wirkt das Ganze wie ein Schulausflug – allerdings sind Sommerferien und nicht alle der Kinder scheinen sich untereinander bereits zu kennen, stattdessen sitzen mehrere Kleingruppen beieinander. Und doch haben sie alle dasselbe Ziel, mit der Linie 457 in Richtung Hörnle geht es bis zur Haltestelle Weimarstraße und ab da zu Fuß über die Poppenweilerstraße zum Ziel ihrer Ferienträume: dem Jugend-Kultur-Haus planet-x. Dort findet seit dem 31. Juli zwei Wochen lang der 29. Marbacher Ferienzauber statt.

 

Schon am Morgen flackert im Garten vor dem zweistöckigen Haus, das an die Real- und die Gemeinschaftsschule grenzt, ein Lagerfeuer. Aus Lautsprechern tönt Musik, „Cotton-Eye Joe“, ein Song, veröffentlicht bevor auch nur eines der 150 teilnehmenden Kinder geboren war. Bis etwa 9.30 Uhr geht es vor dem Jugendhaus recht chaotisch zu, denn es ist Anmeldephase. Alle Kinder bekommen von den Betreuern einen Stempel in ihren Freizeit-Ausweis, als der sich die Karte um den Hals herausstellt.

Piratenschiff wird zur „Wilden Hilde“

Irgendwann hat jeder seinen Stempel im Ausweis und Andreas Ludmann, einer der drei hauptamtlichen Jugendhaus-Mitarbeiter, ergreift das Wort. So beginnen sie hier jeden Morgen gemeinsam, aber heute steht ein besonderer Programmpunkt an. Das Piratenschiff, das die Kindern in den vergangenen Tagen aus Europaletten und anderen Holzlatten gebaut haben, braucht einen Namen. Benannt wird nur das größte Schiff, denn eigentlich stehen sogar drei dort um das Lagerfeuer herum. Alle mit einem eigenen Mast und bunt bemaltem Segel, eine kleine Piratenflotte. Das Mutterschiff zeichnet sich aber nicht nur durch seine Größe aus, sondern auch durch das Steuerrad auf dem Oberdeck. Drei Namen stehen zur Auswahl, abstimmen lässt Ludmann ganz basisdemokratisch per Geschrei der Kinder: mit eindeutiger Mehrheit wird das Schiff „Wilde Hilde“ genannt.

Den Abschluss des Standard-Prozederes zum Tagesauftakt bildet ein kurzes Theaterstück der Betreuer. Am Ende des Tages, gegen 16.15 Uhr, gibt es noch eine weitere Aufführung. „In den Stücken geht es meist darum, dass die Erwachsenen etwas verbocken und die Kinder das Problem lösen müssen“, erklärt Georg Stenkamp, der Leiter des planet-x.

„Das ist im wahren Leben irgendwie ja auch so“, so Stenkamp weiter. Er wolle das nicht zu hoch hängen, aber gewissermaßen orientiere sich das gesamte Konzept der Freizeit an der Realität der Kinder. „Keine Wattebausch-Pädagogik“, nennt Stenkamp das, was so viel heißt wie: Es soll sich niemand ernsthaft verletzen, „aber wenn sich jemand mal die Finger am Feuer verbrennt, dann ist das eben so.“

Auf dem Gelände, das neben dem zweistöckigen Jugendhaus auch vier Klassenräume des Schulgebäudes sowie die Solar-Sporthalle umfasst, dürfen sich die Kinder frei bewegen. Überall werden Workshops angeboten, die die Kinder besuchen können, wenn sie wollen. Sie können aber auch einfach tun, worauf sie gerade Lust haben. Zwei Jungs kommen aus dem Haus gerannt. Welches Ziel sie haben? „Keins, wir rennen einfach nur“, sagt der eine, stellt sich mit seinem Kumpel nach zwei Runden dann aber doch mit ans Lagerfeuer, wo Stockbrot gegrillt wird.

Andrang wie bei Fußball-Tickets

Von Montag bis Donnerstag gibt es in den beiden Wochen zudem immer noch einen Tagesausflug, an diesem Donnerstag geht es zum Minigolf nach Großbottwar. „Das hab ich noch nie gemacht, aber ich bin gespannt“, sagt die angehende Viertklässlerin Qianyu. Sie zeigt ihren Freizeit-Ausweis, auf dem es auch das Feld „Streng geheimer Spitzname“ gibt. Qianyus Papa hat ihn sich ausgesucht, „Cherry“ steht dort. Warum, das weiß sie selbst auch nicht so genau, „wahrscheinlich, weil ich so gerne Kirschen mag“. Die kleine Gruppe der Minigolfer macht sich bald auf den Weg, nicht alle, die mit wollten, haben noch einen Platz bekommen.

Gleiches gilt für die Freizeit als Ganzes: Die Platznachfrage übersteigt das Angebot bei weitem. Wenn die Anmeldung online geht, „läuft es ein bisschen ab wie bei Fußball-Tickets“, sagt Ludmann, so schnell seien die Plätze vergeben. Angereist kommen die Kinder größtenteils aus dem Kreis Ludwigsburg, sie gehen in die Klassen eins bis sechs. „Wenn sie zu jung sind, ist es meistens schwierig und für Ältere haben wir andere Angebote“, so Ludmann. Die glücklichen 150 betreten für zwei Wochen ein Land der schier unbegrenzten Möglichkeiten.

Noch immer wird an dem Piratenschiff gewerkelt, auch wenn es jetzt einen Namen hat und am letzten Tag wieder abgerissen wird. Direkt nebenan können die Kinder Zinngießen, vor dem Keller des Jugendhauses wird gebatikt, im Werkstattraum schleifen einige Schmuckanhänger aus Steinen. Unterstützt werden die Kinder dabei von gut 40 Betreuern, den „Teamern“, wie sie hier genannt werden. Etwa die Hälfte von ihnen ist jedes Jahr im Einsatz, andere absolvieren ein Praktikum für Ausbildung oder Studium, auch ein paar Eltern packen mit an. „Viele der Teamer waren früher selbst als Kinder hier“, weiß Ludmann. „So trägt sich alles über die Generationen hinweg.“

Eine besondere Aus- oder Fortbildung brauchen sie nicht, gefordert sind sie aber trotzdem rund um die Uhr. Der Tag geht für die Kinder von 9 bis 16.30 Uhr, die drei hauptamtlichen Mitarbeiter – Stenkamp, Ludmann und die stellvertretende Jugendhaus-Leiterin Claudia Freude – sind von 8 bis 18 Uhr vor Ort, sonderlich kürzer sind die übrigen Betreuer auch nicht da. Es fallen ganz unterschiedliche Aufgaben für sie an. Neben der klassischen Workshop-Betreuung läuft auch viel auf zwischenmenschlicher Ebene. Als ein Mädchen traurig auf einer Bank sitzt, weil es seine Mama heute mehr vermisst als sonst, setzt sich eine der Betreuerinnen zu ihr und redet ihr gut zu.

Nichts tun ist auch mal erlaubt

Ein bisschen chaotisch geht es schon zu, aber das kann kaum verwundern, wenn so viele Kinder auf einem Haufen durch die Gegend tollen. Es herrscht ein ordentlicher Geräuschpegel, Streit gebe es trotzdem selten, so Ludmann. Gerade weil alle das machen können, worauf sie Lust haben und sich das nicht verscherzen wollen. Georg Stenkamp ragt aus dem Chaos heraus, nicht zuletzt weil er mit den rot gefärbten Haaren auffällt und um die zwei Meter groß ist. Gegenüber den Kindern wirkt er wie ein Riese, trotzdem spricht er immer auf Augenhöhe mit ihnen. Ein Mädchen stellt sich neben ihn, er fragt, was sie gerade macht. „Nichts“, sagt sie und zuckt mit den Schultern worauf Stenkamp schmunzelt: „Hm, auch mal nicht schlecht.“