Die Staatsgalerie Stuttgart hat seine Bestände zu Marcel Duchamp aufgearbeitet und zeigt in „100 Fragen. 100 Antworten“ viel Material, das allerding eher wegführt vom Werk dieses eigenwilligen, frechen und provokanten Querkopfs.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Stuttgart - Letztlich ist es noch heute, nach mehr als hundert Jahren, eine Ungeheuerlichkeit: Da marschiert ein Künstler ins Sanitätsgeschäft, kauft ein gewöhnliches Urinal aus Porzellan, kritzelt eine fiktive Signatur darauf und reicht das Werk für eine New Yorker Ausstellung ein. In der Society of Independent Artists kam es zu aufgeregten Debatten. Am Ende war man sich aber doch einig: „Fountain“ ist keine Kunst – und hat entsprechend nichts in einer Kunstausstellung zu suchen.

 

Heute gilt Marcel Duchamps hintersinnige Kloschüssel als eines der wichtigsten Werke der modernen Kunst – wie auch seine anderen „Readymades“, die er im Laden kaufte und als Kunst deklarierte. Er erklärte eine Schneeschaufel zum Kunstwerk oder auch einen Flaschentrockner, ein Gestell, das früher in vielen Küchen stand. Die Staatsgalerie Stuttgart besitzt einen der insgesamt acht Flaschentrockner, die Duchamp 1964 reproduzierte. Das Original von 1914 existiert nicht mehr, angeblich hat es Duchamps Schwester beim Aufräumen auf den Müll geworfen.

Duchamp macht bewusst, dass es bei Kunst um die Idee geht

In der neuen Ausstellung zu Marcel Duchamp in der Staatsgalerie Stuttgart muss man sich also auf einiges gefasst machen, denn dieser 1887 in Frankreich geborene Künstler muss ein außergewöhnlich freier Geist gewesen sein, der sich nicht um künstlerische Konventionen scherte und sich Freiheiten erlaubte, die das klassische Kunstverständnis gänzlich auf den Kopf stellten. Er gab seinen Arbeiten kryptische Titel wie „Die Braut von ihren Junggesellen nackt entblößt, sogar“ oder montierte ein Rad auf einen Küchenhocker. Das mag man als reine Provokation verstehen, aber es war auch eine radikale Neuerung: Duchamp ebnete den Weg zur Konzeptkunst, indem er deutlich machte, dass es bei der Kunst nicht um das Herstellen eines Produkts geht, sondern um die Idee, das Konzept und den Akt der Auswahl.

Die Staatsgalerie Stuttgart besitzt an die hundert Arbeiten von Duchamp. 1993 wurde das Archiv von Serge Stauffer angekauft, einem Schweizer Künstler, der über Jahre Duchamps Werk erforschte. Obwohl sich Stauffer akribisch in Duchamps Kosmos einarbeitete, blieben Unklarheiten, weshalb er dem Künstler exakt hundert Fragen stellte, oft recht profanen Inhalts. Er wollte beispielsweise wissen, wieviel Zeit Duchamp für diese Arbeit benötigt hat oder wann jenes Werk entstanden ist.

Die Staatsgalerie hat das Stauffer-Archiv jetzt wissenschaftlich aufgearbeitet

Erst jetzt wurde Stauffers Archiv wissenschaftlich aufgearbeitet – und die Ausstellung „100 Fragen. 100 Antworten“ ist das Ergebnis dieser Untersuchung. Es ist also keine klassische Duchamp-Ausstellung, sondern das Werk wird anhand von Stauffers Recherchen aufgerollt. Deshalb hat die Kuratorin Susanne Kaufmann selbst hundert griffige Fragen formuliert, die nun auf Postkarten beantwortet werden. „Ist Schach Kunst?“ heißt es da zum Beispiel oder „Leben wir in einer Welt aus Schatten?“ – und die Antworten sind Wegweiser durch das wahrlich komplexe, schwer zu fassende Werk Duchamps. Wer alle hundert Karten mitnimmt, trägt einen dicken Packen zum Nachlesen mit nach Hause. Information mit Kunstanspruch: Die grauen Karten wurden von dem Konzeptkünstler Joseph Kosuth gestaltet.

Auch sonst sieht man der Ausstellung an, wie viel Arbeit dahinter steckt – und wie sich die junge Kuratorin bemüht hat, das Material lebendig zu inszenieren. Fotografien zeigen Duchamp Zigarre schmauchend, in einem Film sieht man ihn kess in die Kamera grinsen. Hier kann man durch Gucklöcher eigenwillige Bronzeobjekte betrachten, dort in Tonaufnahmen hineinhören. Der „Flaschentrockner“ scheint in der Luft zu schweben – und wirft einen imposanten Schatten. Das hätte Duchamp gefallen, denn Schatten hielt er für einen Hinweis auf die vierte Dimension.

Duchamps heterogenes, freches, witziges Werk mag sich nicht auf Anhieb erschließen, aber es ist durchaus nachvollziehbar, wie er für „3 Kunststopf-Normalmaße“ 1913/14 lange Fäden auf die Leinwand fallen ließ und den Schwung der zufällig entstandenen Linien auf Kurvenlineale übertrug. Duchamp war überzeugt, dass die Malerei am Ende ist, deshalb tat er alles, um Dinge zu erfinden, die nicht mehr als Bild bezeichnet werden können – und ließ vom Schreiner Fensterobjekte en miniature nachbauen.

Duchamp genügt es nicht, nur den Sehsinn anzusprechen

Als junger Mann malte Duchamp noch impressionistisch, aber schon bald wurde ihm klar, dass er nicht allein den Sehsinn ansprechen, sondern auch intellektuell etwas bieten wollte. Deshalb ergänzte er bei einem großen Glasbild seine „Grüne Schachtel“, in der er zusammenhanglose Bemerkungen und Gedanken versammelte – wie „Notiz 73: Staub züchten“.

Auch wenn sich die Ausstellung bemüht, Duchamps Werk zu vermitteln, wurde sie eben doch nicht für das Publikum konzipiert, sondern aus der Untersuchung des Archivs heraus entwickelt – weshalb auch leider „Fountain“ fehlt. Das Urinal habe nichts mit der Sammlung zu tun, heißt es auf einer der Postkarten. Stattdessen werden Ausstellungsplakate gezeigt – etwa von der Dada-Schau 1953 in New York. Die Hunderte Karteikarten, die Serge Stauffer zu Duchamp anlegte, wurden sorgfältig gerahmt und aufgehängt. Die zahllosen Notizen, Zettel, Briefe mögen der Forschung Informationen liefern, aber das Publikum hätte mehr davon gehabt, wenn die Kuratorin eine Auswahl getroffen hätte, die Texte dafür aber übersetzt worden wären.

So werden viele Fährten gelegt, die aber letztlich weg von Duchamp führen, der auch nach hundert Fragen und Antworten nicht wirklich greifbar wird. Eines aber wird deutlich: Duchamp, der eigentlich viel lieber Schach spielte, als sich mit Kunst zu beschäftigen, war ein Mythos, so dass der Künstler Brian O’Doherty während eines Abendessens sogar den Herzschlag des großen Meisters aufzeichnete und einen Elektrokardiografen baute, bei dem ein Lämpchen die Frequenzen nachzeichnet.