Martha Argerich,die große argentinische Pianistin, wird 75 Jahre alt. Jetzt sind ein paar frühe Studioaufnahmen mit Mozart von ihr aufgetaucht. Eine Entdeckung.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart -

 

Wenn die Pianistin Martha Argerich in der Stadt ist, wie jüngst wieder in der Stuttgarter Liederhalle, dann wird normalerweise auch gleich das Podium mit verkauft, so viele Leute drängen da ins Konzert, junge zumal. Und die kommen nicht nur allein wegen der Musik, die Argerich spielt, sondern wegen der Frau an sich, in der jetzt auch noch im Alter (oder gerade im Alter, am Sonntag wird sie 75 Jahre alt) etwas steckt, was andere ihr Lebtag nicht mitbringen, trotz aller Virtuosität. Was das ist? Schwer zu sagen.

Ein sachdienlicher Hinweis in die richtige Richtung immerhin findet sich in einer der kleinen Bibeln des Klavierkonzertgängers, genannt „Große Pianisten unserer Zeit“, verfasst von Joachim Kaiser. Es geht da um Franz Liszts Es-Dur-Konzert, das im Grunde genommen mit einem Thema in aberwitzig vielen Variationen auskommt, eine romantisch-innerliche Gipfelei also, und es reiche, schreibt Kaiser vollkommen zu Recht, hier nicht nur Fingergegenwart allein, vielmehr sei Geistesgegenwart gefordert. Und noch mehr. Denn: „Es geht nicht nur um richtige Töne, sondern ums Leben.“ Ums gefährdete Leben, wie hinzuzufügen ist. Hier jedenfalls, vernimmt man gleich und immer wieder, dass der Exzentriker Liszt von der Exzentrikerin Argerich bestens verstanden wird.

Von Anfang an schließlich balanciert Martha Argerich aus Buenos Aires, Tochter ausgewanderter russischer Juden, auf des Lebensmessersschneide, was dem Lehrer Friedrich Gulda an der Meisterschülerin Martha in Wien sofort auffällt: Dem Madel, deklarierte er, sei technisch nichts beizubringen, außer Phrasierung und Artikulation, und den Rest müsse halt – da ist die Formulierung wieder! – das Leben richten.

Wie sich das mit knapp 19 Jahren im Jahr 1960 (und dann1967) angefühlt haben mag, davon wiederum erzählen jetzt Mono-Aufnahmen aus den Rundfunk-Studios von WDR und NDR, die damals als Sender noch Muße hatten und sich in der schönen Pflicht sahen, junge Menschen zu betreuen. Zeit war da, Raum und Redakteure, die sich was trauen durften. Zum Beispiel eben jene junge Frau aus Argentinien (Busoni-Preisträgerin von 1957 immerhin schon) Mozart spielen zu lassen - und zwar dessen letzte Klaviersonate überhaupt in D-Dur, KV 567, wo sie die Kontrapunktik des ersten Satzes gleichzeitig glasklar liest und doch auch unterminiert, denn ihr Allegro ist ein Allegro animato, oder, mit anderen Worten: something wild. Heute noch kann einen das vom Stuhl hauen. Und auch der Schmerz in den fis-Moll-Teilen des Adagios ist bereits sehr Argerisch – als schaue sie einer Rauchwolke hinterher, die sich schließlich teilt und verweht im Nichts. Nie wieder wird die Pianistin, wie einem gleich bewusst wird, eine Mozart-Sonate aufnehmen, und auch insofern sind das hier kostbare Minuten.

Überhaupt ist der jeweilige Zugriff auf später in Stereo veredelte Versionen von Sergej Prokofjews Dritter Sonate (hier der reinste Punk und aberwitzig rasant unter sieben Minuten Spieldauer gedrückt) und Maurice Ravels „Gaspard de la nuit“ buchstäblich taufrisch, die Interpretation mehr genial gefühlt als durchdacht, aber logischerweise nie gedankenlos: Klavierkunst ohne Grenzen, Kraft und Unbeschwertheit ohne Ende.

Ursächlich verknüpft oder nicht, bricht – und das gehört eben auch zu Argerichs Geschichte dazu – kurze Zeit darauf zum ersten Mal die Alltags- hinter der Kunstwelt zusammen, als die Mutter ihre erste Tochter (zwei andere mit zwei anderen Männern folgen) erst in ein Pflegeheim bringt, wo sie von der Großmutter Argerich unter dramatischen Umständen wieder rausgeholt wird. Und so fort (Lyda Chen Argerich, so heißt das Kind, ist heute eine anerkannte Bratschistin). Die jüngste Argerich- Tochter, Stéphanie Argerich, hat das alles, unter anderem, in einem Film aus dem Jahr 2014 erzählt, er hieß „Bloody Daughter“, und er porträtierte vor allem die Frau und (geliebte) Mutter, der man wie einem kleinen Mädchen lange und gut zureden muss, damit sie überhaupt auf die Bühne geht und spielt. Und das seit Jahrzehnten bekanntermaßen dann nie mehr alleine, sondern immer unter und mit Freunden: das Lampenfieber hat Martha Argerich durchs Leben begleitet wie die zahlreichen Zigaretten vor und nach dem Auftritt, aber wer mitmachen darf (zum Beispiel beim „Progetto Argerich“ in Lugano, ein Festival, das jetzt ausläuft) wird einfach gläubig und kann nicht anders. Die Venezolanerin Gabriela Montero, zum Beispiel, eine im Gegensatz zu Argerich völlig anders gestrickte Weltmeisterin im Kommunizieren bei Recitals, kann da Hymnen singen. Heilige Martha, rätselhaftes Wesen. Hören Sie, nur zum Beispiel, die Chopin-Aufnahme von 1966, nachdem Argerich den Wettbewerb in Warschau gewonnen hatte, und Sie hören keinen Geringeren als: Chopin selbst! (EMI 556805).