Mathematik "Der Zufall hat Gesetze"

Christian Hesse, Professor an der Universität Stuttgart, im Interview über Mathematik und wie man unvorhersehbare Prozesse berechnet.
Herr Hesse, was ist an Mathe sexy?
Ich denke, sexy sind Dinge, die Körper, Seele oder Geist positiv berühren. Eine mitreißende Melodie, ein sympathisches Gesicht - oder filigrane Gedankenkonstruktionen. Es ist vergleichsweise leicht, sich für einen Sonnenuntergang zu begeistern. Dagegen bedarf es des geschulten Geistes, um die Schönheit der Mathematik zu entdecken: die Präzision, die wunderbare Passform, die kleinen Gedankensplitter, die das größere Ganze einer Problemlösung bilden. Das macht Mathematik sexy und schön.
Schöner als ein Adagio von Mozart?
Für mich bedeutet ein gelungener mathematischer Beweis ein größeres Glück als eine Sinfonie von Mozart. Es ist ein Hochgefühl, das man sich erarbeiten muss. Es liegt ja eher im Trend der Zeit, auf der seichten Welle zu surfen, auch in meinem Umfeld: Harte Studienfächer wie Mathe oder Physik, wo die dicken Bretter gebohrt werden, sind nicht so beliebt wie etwa BWL, wo man mit weniger tiefschürfendem Aufwand später möglicherweise sehr viel Geld verdienen kann. Ich häng mich gerne in was rein.
Können Sie diesen Genuss des Denkens noch etwas konkretisieren?
Ein Beispiel: der Direktor eines Tennisturniers überlegt, wie viele Begegnungen bei 128 Spielern ausgetragen werden. Er könnte natürlich die Anzahl der Matches je Runde addieren, also 64+32+16+8+4+2+1, und käme korrekterweise auf 127. Aber wirklich schön ist die Lösung für einen Mathematiker nicht. Es steht auch keine echte Denkleistung dahinter, keine Sicht aufs Ganze. Wie graziös kommt dagegen folgender Ansatz daher: weil am Ende jeder Spieler außer dem Champion genau ein Spiel verloren hat, ist die Anzahl der Begegnungen immer genau um 1 geringer als die Zahl der Spieler: in diesem Fall 127.
Elegant.
Das ist Mathematik! Oder nehmen Sie das Verallgemeinerungsprinzip, meine Lieblingsmethode. Die geht so: findet man bei einem Problem keine Lösung, versucht man sich eben an einem noch anspruchsvolleren - und wechselt etwa von den Zahlen auf die Ebene der Funktionen. So wie es auch ratsamer sein kann, statt einer Getränkekiste zwei zu schleppen, weil dann die Balance stimmt. Oder wie Hochspringer sich nach ein paar Fehlversuchen die Latte noch höher hängen lassen - und es dann schaffen. Kurz gesagt: manchmal ist es einfacher, sich das Leben schwer zu machen.
Weshalb bleiben diese Freuden für viele auf ewig verschlossen?
Das liegt auch daran, dass Mathematik in der Schule bisweilen nur als sturer und perspektivloser Umgang mit abstrakten Techniken vermittelt wird. Dabei ist das Wesen der Mathematik ein ganz anderes. Sie ist die Schule des Denkens. Und ein Abenteuerland. Dazu eine Geschichte: nachdem Anfang des 19. Jahrhunderts Missionare auf die Pazifikinsel Samoa gekommen und den Einwohnern Rechnen beigebracht hatten, legten die Krieger ihre Waffen beiseite und stellten sich - mit Schiefertafel und Griffel bewaffnet - bei jeder Gelegenheit Rechenaufgaben. Das taten sie mit so viel Hingabe, dass der Anthropologe Frederick Walpole in sein Tagebuch schrieb: "Mein Besuch auf der an sich schönen Insel ist sehr stark getrübt gewesen vom pausenloses Addieren, das ich dauernd durchführen musste." Eine Mathebegeisterung kann man auch bei Grundschulkindern entdecken. Leider verlieren viele um das zehnte Lebensjahr den Spaß daran. Ich weiß nicht, warum.
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