Seit knapp drei Monaten wirbelt Matteo Renzi als Ministerpräsident ungebremst durchs Land. Er will, wie er sagt, die Dinge wieder flottkriegen, die seit 20 Jahren festhängen, und krempelt vieles um. Die Europawahlen sollen auch seine eigenen werden.

Rom - Regieren kann so schwer sein. Drei Kilo hatte Matteo Renzi bereits Mitte April zugelegt; da war er erst sechs Wochen Ministerpräsident. Dass es mittlerweile noch ein paar mehr geworden sind, dass das weiße Hemd um die Leibesmitte spannt und das Doppelkinn wächst, das sieht inzwischen jeder in Italien. Parteifreunde ätzen, Stress-Esser Renzi müsse eben mit dem Popcorn vorsichtiger umgehen, und wenn ihn furchtbar schlanke Fernsehjournalistinnen auf das Gewicht der Macht ansprechen, dann runzelt Renzi zur Abwechslung mal die Stirn und sagt: „Um meine Kilos kümmere ich mich nach der Wahl, zuerst kommen die Stimmen dran. Nächste Frage bitte!“

 

Das ist Matteo Renzi, 39 Jahre alt, Hemdkragen meistens offen, in beständigem Multitasking immer mit mindestens einem Tablet und zwei Smartphones gleichzeitig beschäftigt, twitternd schon um sieben Uhr morgens. In seinen gerade einmal drei Monaten als Regierungschef hat er die italienische Politik umgekrempelt, personalisiert, auf sich zugespitzt – wie vorher nur Silvio Berlusconi, meinen vielsagend die einen. Nein, auf ganz neue Weise, befinden die anderen. Er selbst sieht sich als ein Wirbelwind, der übers Land fahren muss, „um Dinge flottzukriegen, die seit zwanzig Jahren festhängen“, um Italien herauszuholen „aus der Krise, aus der Angst, aus der Verzweiflung“.

„Wie eine Straßenwalze“, „wie ein dahinfahrender Zug“, will er sich von nichts und niemandem aufhalten lassen. Renzi sieht sich als Macher ebenso wie als Hoffnungsträger und als Botschafter eines „Italien, das viel größer, viel fähiger ist, als wir immer so denken“.   Und er sagt Dinge, die man nie zuvor gehört hat. Während es zum normalen Politikgeschäft gehört, für alles, was schiefgeht, andere verantwortlich zu machen: die Vorgängerregierung, den sperrigen Koalitionspartner, die böse EU, die italienischen Bürger, die – so sagt es Silvio Berlusconi – „keine Ahnung haben, wie man richtig wählt“, erklärt Renzi schlicht und einfach: „Wenn aus den Reformen, für die ich einstehe, nichts wird, dann bin allein ich schuld. Niemand sonst.“ Wenn er’s nicht schafft, sagt Renzi ganz selbstkritisch, „dann bin ich auch nur ein Schwätzer wie all die anderen. Dann gehe ich.“

Wann immer es geht, sucht Renzi die Nähe zum Volk. Foto: ANSA

Dieser letzte Satz ist seine stärkste Waffe. Das wissen sie alle: Renzis eigene, die sozialdemokratische Partei (PD), die zwei kleinen Koalitionspartner aus dem christdemokratischen Zentrum und der rechtskonservativen Mitte; das weiß auch der alte Berlusconi, der den Jungen ebenso beneidet wie bewundert.   Denn was würde nach Matteo Renzi passieren? Dann könnten alle Parteien einpacken; dann fiele das Land mangels Alternativen an Beppe Grillo, der früher Komiker war, jetzt aber zum politischen Krawallpopulisten und mit seiner fundamentaloppositionellen „Fünf-Sterne-Bewegung“ rechnerisch zur stärksten Kraft in Italien geworden ist – mit faschistoiden Zügen, wie viele Kommentatoren anmerken. Dieses Katastrophenszenarios, dieser Angst vor einer apokalyptischen Schlacht zwischen Politik und Antipolitik, zwischen „Aufbau   und Zerstörung“ bedient sich Renzi auch selbst: Das sichert ihm den Burgfrieden im eigenen Lager – und wenn’s nur einer mit Murren ist.

Renzi hat seine Politikerkollegen ja auch provoziert bis aufs Blut. Warum, so fragte der gelernte Pfadfinderführer und frisch examinierte Jurist, als er kaum Mitte zwanzig war, sollten die Jungen immer darauf warten, bis ihnen die immer gleichen Alten einen Platz zuwiesen? Und er ließ sich – am linken Parteiapparat und dessen offiziellem Kandidaten vorbei – vom Volk wählen: zunächst zum Landrat, 2009 dann zum Bürgermeister von Florenz. Doch kaum hatte er dieses nach eigenem Bekunden „schönste Amt der Welt“ angetreten, berief er – von niemandem gebeten – Tagungen ein, um die Partei gleich auf nationaler Ebene zu reformieren. Alle Kader müssten „verschrottet“ werden, rief Renzi, und in der Hauptstadt – wo Renzi nie war – erregte sich Massimo D’Alema als einer der Gralshüter der italienischen Linken: „Da muss nur so ein Bengel aus der Provinz sagen, dass er uns mit Arschtritten davonjagen will, und schon räumen die Zeitungen ganze Seiten für Interviews mit ihm frei.“

Aufgewachsen in einem kirchlich aktiven, katholischen Elternhaus, in dem der Vater Lokalpolitik und eine Firma für Zeitungswerbung miteinander verband, bekam Renzi den gewinnbringenden Zusammenhang von Politik und ihrer publikumswirksamen Darstellung von klein auf hautnah mit. „Und heute“, sagt der Florentiner Journalist David Allegranti, der Matteo Renzi seit gut zehn Jahren beobachtet, „ist Renzi der größte Kommunikator, den unsere Linke jemals hatte. Eigentlich sieht er Politik als Marketing.“

Allegranti findet auch, dass Renzi als Regierungschef genauso weitermacht wie als Bürgermeister von Florenz: Schon in der Stadtverwaltung habe er sich mit lauter Leuten seines Alters umgeben; schon in Florenz habe er alle mit seinen Entscheidungen überfahren, provokativ, frech, selbstbewusst. „Lieber“, pflegt Renzi zu sagen, „entschuldige ich mich hinterher einmal, als dass ich zuvor jemanden um Erlaubnis frage.“ Die Umwandlung des Florentiner Domplatzes von einem Autobus-Knotenpunkt mit täglich zweitausend Fahrten zur Fußgängerzone sei so ein Beispiel gewesen, sagt Allegranti: „Die wurde seit ewigen Zeiten diskutiert, dann hat Renzi sie im Handstreich beschlossen. Hätte er nach altem Brauch alle Interessengruppen und alle Bedenkenträger vorher angehört, wäre das Projekt heute noch nicht umgesetzt.“

Immer schon hat es Renzi auf Aktionen mit sofortiger Sichtbarkeit und Bildwirkung angelegt, „auf den „Spot“, sagt Allegranti, auf den Wirbel: „Da hat er zur Stadtreform ,100 Punkte für Florenz‘ verkündet. Und als sich herausstellte, dass die nicht so umfassend realisiert werden konnten wie versprochen, hat er zur Ablenkung schnell hundert neue Punkte aus dem Hut gezaubert. Und dann wieder neue, immer wieder.“   Und dass man zu Renzis Florentiner Zeiten von den anderen Mitgliedern der Stadtregierung ebenso wenig hörte wie heute von den Ministern in seiner Regierung, auch das hält Allegranti für eine Konstante: „Genauso wie er immer schon als Outsider gestartet ist, hat er sich immer nur dort wohlgefühlt, wo er Nummer eins war. Und die Maxime ,es kommandiert nur einer‘ zieht er überall durch.“

Im Hintergrund immer präsent: Renzis Konkurrent Beppe Grillo Foto: ANSA

Nur etwas, mit dem der Bürgermeister Renzi sich so profiliert hat, kann der   Regierungschef Renzi nicht mehr: In Florenz war er, auf seinem Rad unterwegs, immer unter den Leuten. „Schon um sechs Uhr morgens hat er irgendwo in der Stadt mit Müllmännern diskutiert oder mit Arbeitslosen oder mit Leuten, die irgendein Wehwehchen hatten. Für alle war er nur ,Matteo‘,“ sagt Allegranti: „Das wurde als erfrischend revolutionär umso stärker empfunden, als sich Renzis Vorgänger vor den Bürgern regelrecht versteckt hat.“

Die Massenwirkung Renzis beruht nach Meinung vieler Kommentatoren darauf, dass er den „Palazzo“ zu den Menschen gebracht hat. Das heißt: er hat die als abgeschottet, bürgerfern geltende Politikerkaste, die abstrakte Verwaltung durch permanente persönliche Sichtbarkeit im Volk greifbar gemacht. Und heute? Renzi bricht aus seiner „Gefangenschaft“ im römischen Palazzo systematisch jede Woche aus, um Schulen irgendwo im Land zu besuchen: Da mischt er sich mitten unters Volk, da verteilt er Millionen für Restaurierungsarbeiten, da gibt’s lebendige Fernsehbilder. Schließlich, sagt Renzi, „muss Italiens Neustart anfangen bei Ausbildung und Arbeit.“

Renzis Hauptwaffe ist das Wort. Er hat eine sehr schnelle, leichte Zunge, er redet furchtbar viel und trotzdem immer druckreif; er wechselt Ironie, Selbstironie auch, und tiefen Ernst, teilt süffisant aus, ohne je vulgär zu werden wie sein Hauptrivale Beppe Grillo. Praktisch immer spricht Renzi frei, gestützt allenfalls auf eine tendenziell wirre Ansammlung von Notizzetteln, und er sagt – wenn’s sein muss auch recht brüsk –, was er will und denkt. „Genau das kommt bei den Leuten an“, findet Allegranti.

Der Sozialdemokrat macht sich für Martin Schulz stark. Foto: ANSA

Bei seinem ersten Auftritt im Senat, noch bevor ihm diese Parlamentskammer das Vertrauen ausgesprochen hatte, teilte Renzi den 315 Abgeordneten mit, er wolle sie alle nach Hause schicken: Parlamentsreform, Verschlankung, Kosteneinsparung – alles ausgiebig diskutiert, aber nie umgesetzt.   Renzi stand ganz lässig vorne, blickte von oben herab in die Reihen, behielt die Hände in den Hosentaschen. Das alles, obwohl er selbst mit seinen erst 39 Lebensjahren für den Senat noch gar nicht wählbar gewesen wäre. Die Irritation und der Zorn der Abgeordneten über diesen „Mangel an Würde“ verfolgt ihn bis heute. Und die Parlamentsreform, die Renzi als seinen großen Erfolg in die Europawahl einbringen wollte, ist erst einmal vertagt.

Stückwerk hat das Parlament auch Renzis andere hoch populäre Ankündigungen bleiben lassen: Für März hatte er die Reform des Arbeitsmarkts nicht nur versprochen, sondern beinahe   angeordnet, für April die der öffentlichen Verwaltung – „Mit dem Bagger durch die Bürokratie!“ –, für Mai eine Steuerreform. Binnen weniger Tage wollte Renzi auch das neue Wahlrecht durchgesetzt haben – doch es hängt bis heute, nur halb beschlossen und deshalb unbrauchbar, im Parteienstreit fest.

Geschafft sind eigentlich nur einige Reformen beim Arbeitsrecht, aber nicht das große Gesamtwerk, das Renzi wollte. Die Durchgriffsrechte eines   Premierministers in Rom, so hat es der Stürmische zu seinem Verdruss lernen müssen, sind kleiner als die eines Bürgermeisters in Florenz; die Abgeordneten lehnten es ab, sich Beschlüsse und Zeitpläne in ultimativem Ton diktieren zu lassen. Gerade die Linken in der Partei, denen der Chef – wenn überhaupt – nie genug auf der althergebrachten Linie ist, formulierten die Vorlage um. Immerhin: seit wenigen Tagen kann Renzi sagen, sie sei Gesetz geworden.

Auf 33 Prozent, versprechen die Umfragen, werden Italiens Sozialdemokraten am Wahlsonntag kommen, bei dem es ja nicht nur um Europa, sondern in der Hälfte aller italienischen Gemeinden auch um neue Kommunalregierungen geht. 33 Prozent – das liegt zwar um „sichere“ sieben bis acht Punkte über dem Wert für Beppe Grillo; dennoch treibt Renzi sehr intensiv und landesweit Wahlkampf.

Es geht auch um ihn persönlich, denn ausgerechnet diesem Renzi, der die Mechanismen des „Palazzo“ ablehnte und sich immer vom Volk bestätigen lassen wollte, fehlen die demokratischen Weihen. Im Februar hat er ohne   Wahlen seinen Parteifreund Enrico Letta aus dem Regierungsamt geputscht. Jetzt will er sich im Nachhinein die Erlaubnis dafür holen. Je entschiedener sie ausfällt, umso stärker kann der Regierungschef in Rom auftreten. Das Volk bekommt schon seine Anreize: An allen Finanzexperten vorbei hat Renzi durchgesetzt, dass Geringverdiener um monatlich 80 Euro Steuern entlastet werden. Wirksam wird das mit der Lohnabrechnung für Mai – genau um den Wahlsonntag herum.