Wie unterscheidet man im Netz Wahrheit und Lüge? Wer manipuliert wen? Und wo ist die Grenze zwischen Aufklärung und Denunzieren? Der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen hat ein Buch über die fünf größten Gefahren im digitalen Zeitalter geschrieben – und wie man sie verhindern kann.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Am Ende des Romans „Der Zauberberg“ von Thomas Mann wird es im Davoser Lungensanatorium richtig ungemütlich. „Was gab es denn? Was lag in der Luft?“, heißt es da. „Zanksucht. Kriselnde Gereiztheit. Namenlose Ungeduld. Eine allgemeine Neigung zu giftigem Wortwechsel, zum Wutausbruch, ja zum Handgemenge. Erbitterter Streit, zügelloses Hin- und Hergeschrei entsprang alle Tage zwischen Einzelnen und ganzen Gruppen.“ Der Dichter hat dieses vorletzte Kapitel seines Jahrhundertromans „Die große Gereiztheit“ genannt. Danach kommt nur noch das Finale: „Der Donnerschlag“, 1914.

 

Allein für die Idee, diese rund hundert Jahre alte glänzende Beschreibung einer Gesellschaftsstimmung als Bild für den zusehends verrohenden und hysterisierenden Zustand in unserer vernetzten, digitalisierten Welt im Hier und Jetzt zu übertragen, muss man dem Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen Anerkennung zollen. „Die große Gereiztheit“ hat er sein Buch im Carl Hanser Verlag betitelt, das „die Erregungsmuster des digitalen Zeitalters“ analysieren will, und auch „das Geschäft mit der Desinformation“.

Wobei der 48-jährige Professor von der Universität Tübingen keinen Zweifel lässt, dass es bei alledem nicht nur um so unerfreuliche Einzelauswüchse geht wie Pöbeleien in sozialen Netzwerken, Shitstorms und Mobbing bereits unter Grundschulkindern oder kriminelle Manipulation von Wahlen via Trollen und Darknet. Das grassierende Reizklima geht seiner Meinung nach vielmehr an die Substanz einer auf Freiheit, Demokratie und Ausgleich zielenden Gesellschaft. Als Beispiel für die politischen Abgründe im Zeitalter der digitalen Gereiztheit führt er den Fall der 13-jährigen Lisa aus Berlin-Marzahn an, die 2016 nach einer auswärts verbrachten Nacht ihrer Mutter die Lügengeschichte erzählte, von drei Südländern entführt und vergewaltigt worden zu sein. Via Facebook und Twitter verbreitet sich die Geschichte in Windeseile, führt zu Demos und Brandanschlägen, verselbstständigt sich bis hin zum Politikum und, weil Lisa Deutschrussin ist, gar zu einer Intervention des russischen Außenministers.

Ein bisschen Medienkompetenz-Unterricht allein wird nicht helfen

Pörksens Buch ist voll solcher Beispiele aus den vergangenen Jahren, die alle nicht nur geeignet sind, seinen Buchtitel zu belegen, sondern auch den Leser in Depression zu stürzen. Doch seine Stärke ist, dass er die Phänomene nicht nur beschreibt, sondern sortiert und einordnet – und nach einer Strategie sucht. Denn natürlich ist ihm klar, dass es ein Zurück in die „vordigitale Kommunikation“ nicht geben kann. Nach Pörksens Auffassung stellt sich eine „gesellschaftlich noch gar nicht entzifferte Bildungsherausforderung. Wir leben in einer Phase der mentalen Pubertät im Umgang mit neuen Möglichkeiten“, und die müsse mit mehr Zugriff überwunden werden als mit ein paar „kleinformatigen Didaktik- und Medienkompetenz-Programmen . . . Sie sind einfach zu mickrig geträumt.“

Doch vor dem Rezept kommt in Pörksens Buchs zunächst die genau beschriebene Diagnose – die Aufschlüsselung der „großen kommunikativen Gereiztheit“ in fünf Krisenphänomenen: der Wahrheitskrise (was ist richtig, was ist falsch im Netz, will mich jemand manipulieren?), der Diskurskrise (wer kann noch entscheiden, was wichtig ist?), der Autoritätskrise (wo sind noch Grenzen zwischen öffentlich und privat, wem glauben wir noch?), der Behaglichkeitskrise (wie viele Informationen und Meinungen kann man überhaupt verarbeiten?) und der Reputationskrise (wie begegnet man der ständigen Gefahr, Teil eines Skandals zu werden?).

All das ist ebenso spannend wie nachvollziehbar zu lesen, weil Pörksen zwar das Besteck der Medientheorie zu benutzen versteht, doch stets eng verbunden bleibt mit dem konkreten Geschehen, mit Beispielen und Fällen. Und der Leser ist froh, nicht nur mit den zahlreichen Negativbeispielen der vernetzten Kommunikation konfrontiert zu werden, sondern sie dank Pörksen endlich in einen größeren Zusammenhang einordnen zu können (wobei in einer künftigen Auflage ein paar zusätzliche Absätze im Text dessen Lesbarkeit noch enorm steigern würden).

Die ganze Gesellschaft muss sich künftig als Redaktion verstehen

Wie bereits erwähnt: Am Ende des „Zauberbergs“ steht das ganz reale Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs – ein Szenario, das in der voll digitalisierten Welt angesichts der geheimdienstlichen Kampagnen zur weltweiten Desinformation ja keineswegs völlig irreal ist. Pörksens Versuch einer Gegenstrategie lautet: „die konkrete Utopie der redaktionellen Gesellschaft“. Damit hat der Medienprofessor Pörksen, der einst selbst eine journalistische Ausbildung genossen hat, Bürger im Sinn, die einige schon sehr alte Tugenden des guten Journalismus in ihrem ganz normalen Kommunikationsalltag zu praktizieren lernen, zum Beispiel das Prinzip, nach Wahrheit zu streben, oder jeder Information mit Neugier, aber auch mit Skepsis zu begegnen.

Gerade mit diesem Abschluss geht Pörksen weit über das ja auch schon wieder medial gut vermarktbare Gejammer anderer Netzkritiker wie Sascha Lobo oder Andrew Keen hinaus. Gäbe es mehr Experten vom Rang Pörksens, wäre die Debatte vermutlich schon weiter – sachlicher nämlich.