Am Freitag erscheint die „Financial Times Deutschland“ zum letzten Mal. Eine Digitalisierung hätte uns retten können, sagen enttäuschte Mitarbeiter.
Frankfurt - So ist das also, wenn andere Journalisten über einen selber berichten. Tim Bartz, Ressortleiter Finanzen bei der „Financial Times Deutschland“ (FTD), soll einen Umzugskarton durch die Redaktion tragen – einem Fernsehteam zuliebe, für einen Film zur Medienkrise. Der 42-Jährige greift sich den Karton, sagt ironisch: „Wir drehen jetzt eine Vorabendserie: So schließe ich eine Zeitung.“ Doch es ist ernst. Die FTD wird tatsächlich eingestellt. Heute erscheint das Blatt zum letzten Mal.
Die deutsche Zeitungslandschaft verliert damit mehr als nur das lachsrosa Papier, auf dem die FTD nach dem Vorbild der britischen „Financial Times“ gedruckt wird. Bis zuletzt produzierte die Redaktion Exklusivmeldungen. Parallel dazu versteigerte sie Erinnerungsstücke wie die Erstausgabe bei Ebay und sammelte Tausende Euro für Reporter ohne Grenzen. Trotz drohender Arbeitslosigkeit haben die FTD-Journalisten bis zum Schluss Originalität bewiesen.
Die Verluste belaufen sich auf 250 Millionen Euro
Nur finanziell hat sich die Wirtschaftszeitung nie gerechnet. Seit ihrem Start vor knapp 13 Jahren hat sie Verluste von mehr als 250 Millionen Euro angehäuft. Trotzdem kam die Einstellung für Tim Bartz und seine Kollegen unerwartet. Ein Grund für ihre Überraschung ist eben der Umzugskarton, den der Ressortleiter für die Kamera über den Flur trägt. Die Kiste wurde nämlich keineswegs für die Schließung beschafft, sondern stammt noch vom Umzug der Frankfurter FTD-Korrespondenten in neue Redaktionsräume. Der liegt gerade erst drei Monate zurück. Anfang vergangener Woche, da war die Einstellung der FTD schon bekannt, trafen noch Türschilder für die einzelnen Büros ein.
Was ist seit dem Umzug, seit der Bestellung der Türschilder durch die Hamburger FTD-Zentrale passiert? Warum kam das Ende so plötzlich? Wie kann es sein, dass der renommierte Verlag Gruner und Jahr (G+J) sich praktisch aus der Wirtschaftsberichterstattung verabschiedet? Denn neben der FTD will der Verlag auch die Magazine „Börse Online“ und „Impulse“ aufgeben, einzig „Capital“ soll weitergeführt werden. Selbst wenn sich für die beiden anderen Magazine noch Käufer finden sollten: die meisten der über 300 Mitarbeiter der Gruner+Jahr Wirtschaftsmedien sind ihren Job los.
„Hier sind in den vergangenen Wochen mindestens so viele Tränen wie Bier geflossen“, sagt Bartz. Ein mulmiges Gefühl beschlich ihn erstmals, als im August ein offener Streit zwischen dem Verlagshaus G+J und seinem größten Anteilseigner Bertelsmann ausbrach. Genauer: zwischen dem neuen Bertelsmann-Chef Thomas Rabe und dem langjährigen Gruner+Jahr-Vorstandsvorsitzenden Bernd Buchholz. Ende August warf der 50-Jährige hin.
Die Managerin Julia Jäkel räumt auf
Dafür rückte Julia Jäkel in den Vorstand auf. Der Managerin eilte ein gewisser Ruf voraus: Anfang August hatte sie „Brigitte“-Chefredakteur Andreas Lebert vor die Tür gesetzt. Es war Jäkels erste Amtshandlung nach der Rückkehr aus der Babypause, Ende März hatte sie Zwillinge zur Welt gebracht. Vater ist der frühere Tagesthemen-Moderator Ulrich Wickert.
Im dreiköpfigen G+J-Vorstand übernahm Jäkel Anfang September die Verantwortung für die Wirtschaftsmedien und das Digitalgeschäft. Im Oktober installierte sie einen neuen Digitalchef. Am 12. November berichteten „Spiegel“ und „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ unisono, die FTD könnte eingestellt werden.
„Es gab dazu kein einziges Statement des Verlags. Wir alle wissen als Journalisten, was das bedeutet: ‚Die dementieren das nicht mal, da wird was dran sein‘“, beschreibt Ressortleiter Bartz die Stimmung damals. Danach häuften sich die Meldungen, der Vorstand schwieg. Erst am 23. November wurde die Einstellung den Mitarbeitern offiziell mitgeteilt.
Tränen bei der Betriebsversammlung
In der Betriebsversammlung soll Jäkel, die einst dem Gründungsteam der Zeitung angehörte, geweint haben. Bei den von Arbeitslosigkeit bedrohten Mitarbeitern kam das nicht gut an. „Sie schien fast Mitleid dafür zu erwarten, dass sie diese harte Entscheidung treffen muss“, sagt einer. „Unprofessionell“ habe sich Jäkel verhalten, schimpft eine Redakteurin: „Wenn man so eine Entscheidung wirklich für wirtschaftlich unausweichlich hält, sollte man auch dazu stehen.“
Jäkel wehrt sich gegen den Verdacht, dass sie sich dem Druck des Mehrheitseigners Bertelsmann gebeugt habe. „Ich bin von niemandem der Erfüllungsgehilfe“, sagte sie in einem Interview . „Wir mussten im Vorstand abwägen, ob wir echte Chancen für die nächsten Jahre sehen.“ Die Antwort lautete Nein – zumal sich bei den Wirtschaftsmedien allein 2012 ein Verlust von 15 Millionen Euro abzeichnete.
Dabei hatte alles so hoffnungsvoll begonnen, Ende 1999, als die ersten Testausgaben der „Financial Times Deutschland“ produziert wurden. „Es herrschte eine wahnsinnige Aufbruchstimmung“, erinnert sich Ina Lockhart. Sie wurde damals von der Nachrichtenagentur Dow Jones abgeworben. Ihre neuen Kollegen kamen von der „Börsenzeitung“, von der „Zeit“, auch Banker waren dabei. Es war die Blütezeit der New Economy, Wirtschaftsjournalisten waren gefragt und teuer. Die Eigentümer legten für die Zusammenstellung der Redaktion viel Geld auf den Tisch – neben G+J war damals auch der Verlag der britischen „Financial Times“, Pearson, mit im Boot. „Vor uns liegt eines der aufregendsten und ehrgeizigsten Projekte der deutschen Presse“, schwärmte Gründungschefredakteur Andrew Gowers, der als Geburtshelfer von London nach Hamburg umzog.
Eine bunte Truppe, die knackiger schreiben will
Gowers sei ein „Menschenfänger“ gewesen, sagt Lockhart, die mittlerweile als freie Journalistin arbeitet. Die bunt zusammengewürfelte Redaktion wurde schnell zu einer „verschworenen Truppe“. Sie einte das Ziel, „knackiger, kürzer und einfacher“ zu schreiben als das altehrwürdige„Handelsblatt“, auch angriffslustiger: „Wir wollten das Enfant terrible des Wirtschaftsjournalismus sein, aber ernst genommen werden.“
Das sei durchaus gelungen, urteilt die Medienwissenschaftlerin Claudia Mast von der Universität Hohenheim. Die FTD habe „den Wirtschaftsjournalismus in Deutschland aus seinem Dornröschenschlaf aufgeweckt und gezeigt, dass fachlich fundierte Wirtschaftsberichterstattung keine langen, schwer verständlichen Artikel sein müssen“, lobt die Professorin.
Doch schon kurz nach Veröffentlichung der Erstausgabe am 21. Februar 2000 geriet die junge Zeitung in ein schwieriges Fahrwasser. Die Dotcom-Blase platzte, der Neue Markt stürzte ab. „Viele Menschen hielten wieder Abstand zu den Börsen und zur Aktienanlage. Danach waren die Bedingungen für eine Wirtschaftstageszeitung viel schwieriger“, sagt Mast. Hinzu kam ein Problem, mit dem auch andere Zeitungen zu kämpfen haben: Die Abwanderung von Lesern und Anzeigen ins Internet. Die Zahl der FTD-Abonnenten erreichte 2006 mit rund 62 000 ihren Höhepunkt, zuletzt waren es nur noch 42 000. Dieser Einbruch um ein Drittel ist extrem. Dass die Zahl der Abonnenten schrumpft, erleben aber die meisten Zeitungen – auch die Stuttgarter.
Die Digitalisierung als Lösung?
Die Chefredaktion der FTD wollte aus der Not eine Tugend machen und ihr Produkt komplett ins Internet verlagern: Nach einer mehrjährigen Übergangsphase sollte die FTD nur noch online beziehungsweise als E-Paper oder App erscheinen. Auf diese Weise wären die Kosten für Druck und Vertrieb weggefallen. Für die Umsetzung dieser Strategie, wird in der Redaktion gemunkelt, wären Investitionen von 20 bis 30 Millionen Euro nötig gewesen. Das wäre weniger als die rund 40 Millionen Euro Abfindungen, die Gruner und Jahr jetzt wohl hinblättern wird.
Ein Verlagssprecher sagt dazu, die Digitalisierung hätte rund zehn Millionen Euro jährlich gekostet. Niemand wisse aber, ob der Prozess letztlich drei oder fünf Jahre gedauert hätte. Außerdem: für einen wirtschaftlichen Erfolg hätten die Erlöse einer Digitalausgabe die Verluste bei den Anzeigeneinnahmen „überkompensieren“ müssen. Diese Annahme sei „zu optimistisch“, sagte der Sprecher.
Tatsächlich machen die bisherigen Erfahrungen der FTD mit dem Vertrieb von Digitalprodukten wenig Mut. Seit Mai 2011 sind einzelne Onlineartikel kostenpflichtig. Die Zahl der Leser, die dafür ein Tagesticket lösten, lag unter 1000 pro Monat. Das E-Paper der FTD wurde im dritten Quartal 1600-mal verkauft. Die modernere App für Tablet-Computer und Smartphones erreicht ebenfalls nur einen kleinen Kreis von Abonnenten.
Allerdings leiden bislang alle Bezahlinhalte im Internet darunter, dass es reichlich kostenlose Alternativen gibt. Hier zeichnet sich ein Umdenken ab: Der Marktführer „Spiegel Online“ erwägt offenbar, bestimmte Artikel künftig nur noch gegen Bezahlung anzubieten. Das wäre eine Chance auch für andere Websites, für ihre Inhalte Geld zu nehmen.
Ein ungewisses Experiment
Der Berliner Kommunikationswissenschaftler Klaus Beck hält die Digitalisierung für „ein Experiment, dass man gehen sollte“. Ob sie die FTD hätte retten können, sei allerdings ungewiss: „Sie hätte sich gegen den Online-Auftritt des ,Handelsblatts‘ und anderer Wirtschaftsmedien durchsetzen müssen.“
Darauf wollte es Gruner+Jahr offenkundig nicht ankommen lassen. Für die Redaktion ist das bitter: „Niemand war so gut auf eine Digitalisierung vorbereitet wie wir“, sagt der Frankfurter Büroleiter Bartz. Seit März sind Zeitungs- und Websiteproduktion bei der FTD besonders eng miteinander verzahnt, bis dahin nur für die gedruckte Ausgabe zuständige Redakteure schreiben auch direkt für Online.
Bis zuletzt machen die Redakteure Überstunden
Während Bartz erzählt, tippt eine Kollegin gerade einen Bericht für die Website – obwohl es Freitagabend ist und sie normalerweise längst zu Hause sein könnte, weil die Zeitung nur börsentäglich erscheint. „Das ist eine irre Geschichte“, die müsse sie einfach aufschreiben, begründet die Redakteurin ihren Sondereinsatz. Ein Leben außerhalb des Journalismus kann sie sich nicht vorstellen: „Ich will nicht als PR-Tante enden.“ Auch Bartz fällt der Gedanke schwer, sich von seinem „Traumberuf“ verabschieden zu müssen.
Aber wohin? Gerade erst sind mit „Frankfurter Rundschau“ und der Nachrichtenagentur dapd zwei Medienbetriebe in die Insolvenz gerutscht. Die „Berliner Zeitung“ streicht Stellen, selbst die „Frankfurter Allgemeine“ macht Medienberichten zufolge Verluste. Für Kommunikationswissenschaftler Beck gibt es nur eine Lösung: „Die Konsumenten müssen wieder daran gewöhnt werden, für Qualitätsjournalismus zu bezahlen.“