Weltweit suchen Forscher nach neuen Wegen, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden. Ziel ist, lebensbedrohliche Hirnerkrankungen besser zu behandeln.

Stuttgart - Sie ist eine wahrlich mächtige Barriere, die fast kein Durchkommen erlaubt: die Blut-Hirn-Schranke. Blutgefäße durchziehen als ein komplexes Geflecht das Gehirn und versorgen die 100 Milliarden Nervenzellen mit Nährstoffen. Sie erstrecken sich beim Erwachsenen über beachtliche 600 Kilometer Länge. Von Innen sind sie mit sogenannten Endothelzellen wie von einer Tapete ausgekleidet.

 

Die Schranke zum Gehirn entsteht nun dadurch, dass diese Deckzellen von besonders engen Zellkontakten zusammengeschweißt werden. Diese Barriere verhindert sie wie eine Art Schutzschild, dass fremde Stoffe, Krankheitserreger oder giftige Stoffwechselprodukte vom Blutkreislauf in das Denkorgan eindringen. Doch die Schranke im Kopf stellt für Patienten auch ein Problem dar, weil sie auch eine große Hürde für die medikamentöse Therapie von Hirnerkrankungen ist.

Alkohol kann die Barriere passieren

Etwa 98 Prozent aller Medikamente zur Behandlung von Hirnerkrankungen wie beispielsweise Hirntumoren gelangt auf Grund der Barriere nicht ins Gehirn. Um die Schranke passieren zu können, müssen Substanzen entweder besonders klein sein – wie etwa viele Antidepressiva und Schlafmittel. Oder sie müssen fettlöslich sein: Alkohol oder Kokain etwa schlüpfen wegen ihrer Affinität zu Fettstoffen leicht durch die fetthaltige Membran der Endothelzellen.

Forscher suchen daher schon seit Jahrzehnten nach Methoden, die Schranke zu überwinden. Besonders dringend ist dies für die Behandlung von Hirntumoren. Denn die Wirkstoffe von Chemotherapien erreichen einen Tumor an diesem Ort entweder gar nicht oder nur in nicht nennenswerter Konzentration. Wissenschaftler um den Neurochirurgen Todd Mainprize von der University of Toronto setzen daher auf einen raffinierten „Sesam-öffne-dich-Mechanismus“ für das Gehirn: Ultraschall.

Studie mit Mikrobläschen und Ultraschall

In einer noch laufenden Studie verabreichten die Mediziner einer Patientin mit Hirntumor ein Chemotherapie-Medikament. Dann spritzen sie ihr winzige gasgefüllte Bläschen ins Blut. Die Mikroblasen sind kleiner als rote Blutzellen und fließen im Blutstrom mit, ohne Schaden anzurichten. Dann richteten die Mediziner einen schwachen Ultraschallstrahl auf die Blutgefäße der Blut-Hirn-Schranke in der Nähe des Tumors. Hier sorgen die Schallwellen dafür, dass sich die Mikroblasen im Blut immer wieder ausdehnen und zusammenziehen. Die vibrierenden Bläschen wiederum bewirken, dass sich der enge Zellverband in der Blut-Hirn-Schranke lockert.

In der Tat waren einige Zeit später auf einer Aufnahme des Gehirns der Patientin Öffnungen in der Barriere zu sehen. Diese schlossen sich nach rund zwölf Stunden wieder. Einen knappen Tag später wurde der Patientin dann – wie von Anfang an geplant – der Tumor samt umliegendem Gewebe herausoperiert. Im Rahmen der Studie werden nun die Konzentrationen des Chemotherapie-Mittels in dem entfernten Tumor- und Hirngewebe untersucht. So lässt sich feststellen, wie viel besser das Medikament diejenigen Areale erreicht hat, deren Blutgefäße mittels Ultraschall geöffnet worden waren.

Manche Experten sind noch nicht überzeugt

Im Rahmen der Studie sollen insgesamt zehn Patienten mit Mikrobläschen und Ultraschall behandelt werden, bevor anschließend ihr Hirntumor auf herkömmliche Weise herausoperiert wird. Schon heute zeichnet sich allerdings ab, dass man mit dieser Methode die Blut-Hirn-Schranke gezielt an einem ganz bestimmten Ort aufbrechen kann. Und zumindest Tierversuche haben bisher auch keine nachteiligen Langzeitwirkungen auf das Verhalten oder die Gesundheit ausmachen können.

Gert Fricker ist allerdings noch nicht ganz überzeugt. „Man darf diesen ersten Befund beim Menschen nicht überbewerten, obwohl er durchaus interessant ist“, sagt der Biochemiker von der Uni Heidelberg. „Das Problem ist, dass das Verfahren die Blut-Hirn-Schranke relativ unspezifisch öffnet.“ Alle möglichen Stoffe könnten dadurch aus dem Blut ins Gehirn dringen – darunter auch Substanzen mit nervenschädigender Wirkung.

Natürliche Pumpe blockiert

Wegen solcher Risiken versuchen Forscher, die Schranke auch noch auf anderen Wegen zu überwinden. Ein aussichtsreicher Versuch ist es, an einer natürlichen Pumpe in der Blut-Hirn-Schranke anzusetzen. Diese fängt körperfremde und potenziell Nervenzellen schädigende Substanzen ab und pumpt sie unmittelbar in den Blutkreislauf zurück – darunter allerdings auch Medikamente. Die Idee ist nun, diese Pumpe zu blockieren.

So gingen 2015 Forscher um den klinischen Pharmakologen Oliver Langer von der Medizinischen Universität Wien für eine Studie im Fachblatt „Journal of Cerebral Blood Flow & Metabolism“ vor. Sie legten die Funktion der Pumpe bei gesunden Probanden medikamentös mit einem Blocker lahm, den sie den Freiwilligen kontinuierlich über die Vene injizierten. Mit einem bildgebenden Verfahren konnten sie dann beobachten, wie sich eine schwach radioaktiv markierte Testsubstanz im Gehirn verteilte, die sonst einfach wieder herausgepumpt worden wäre. Tatsächlich konnte die Substanz stärker in die Denkzentrale der Freiwilligen vordringen als es unter Normalbedingungen der Fall gewesen wäre.

Schlaganfall-Patienten könnten profitieren

Neben Menschen mit Hirntumor könnten künftig auch Schlaganfall-Patienten von solchen neuen Verfahren zur Überwindung der Blut-Hirn-Schranke profitieren. Auf diese Weise könne man möglicherweise die Verteilung von Medikamenten im Gehirn verbessern, die das Absterben von Nervenzellen und Nervenfasern im Zuge des Schlaganfalls verhindern sollen, meint Oliver Langer.

Das aber ist noch Zukunftsmusik: Bevor Patienten mit solch lebensbedrohlichen Erkrankungen auf diese Weise behandelt werden können, wird noch einige Zeit vergehen.