Bei einer Tagung in Heidelberg geben Stammzellforscher einen Einblick in ihre Laborarbeit: Sie züchten zum Beispiel kleine Organe – etwa Gehirne oder Mägen –, um an diesen Modellen Krankheiten genauer zu untersuchen.
Heidelberg - Es gibt mehrere Möglichkeiten, wie Wissenschaftler Anerkennung für ihre Arbeit bekommen. Jürgen Knoblich hat eine besondere Form erlebt. Vor einem Jahr erregte der Stammzellforscher weltweit Aufsehen: Er produzierte aus Stammzellen menschliche Gehirne in Erbsengröße. „Seitdem haben wir Anfragen von mehr als 100 Labors bekommen, die unsere Technik übernehmen wollen“, erzählt der 51-Jährige.
Jürgen Knoblich hat sie gern beantwortet. Der stellvertretende Direktor am Institut für Biotechnologie in Wien hält nichts von Geheimniskrämerei. Er erläutert alle Details des aufwendigen Verfahrens: die Zusammensetzung der Nährlösung, die gewöhnliche Hautzellen eines Menschen erst in Stammzellen und dann in Nervenzellen verwandelt. Und die Tricks, damit die Minigehirne im Bioreaktor nicht frühzeitig zerfallen, sondern die Nervenzellen sich selbst zu kugelförmigen Strukturen organisieren können – wie in einem Embryo. Knoblich vergleicht das Ergebnis dieser Organzucht mit dem Gehirn eines neun Wochen alten Fötus. Das stimmt nur begrenzt: Hunderte Minigehirne hat Knoblich erzeugt. Sie unterscheiden sich deutlich voneinander. Aber ihr Aufbau weist genug Ähnlichkeiten auf, dass sie als Modell für die Entwicklung des menschlichen Gehirns taugen.
Dieser Ansicht scheinen auch andere Forscher zu sein. Zwei Teams, die seine Methode übernommen haben, seien schon so weit, dass sie bald eigene Ergebnisse veröffentlichen werden, berichtet Knoblich. Mit etwa zehn Wissenschaftlern plant der Biologe eine direkte Kooperation. „Wir betreiben Grundlagenforschung und wollen neurologische Krankheiten untersuchen, die mit Entwicklungsdefekten einhergehen“, erklärt Knoblich. Dazu zählt auch das neue Labor von Madeline Lancaster. Die US-Amerikanerin war in Wien seine wichtigste Mitarbeiterin im Gehirnprojekt. Demnächst wird sie ein eigenes Team in Cambridge führen.
Ein neues Verfahren, um das Erbgut präzise zu verändern
Der Forscher, der in Memmingen geboren wurde und in Tübingen studierte, musste viele Bedenken ausräumen. Ihm wurde unterstellt, dass er noch größere Gehirne züchten wollte. Organe aus Bioreaktoren, die denken können und fühlen. „Das wird nicht möglich sein“, sagt er. „Wir können nicht einmal ein Gehirn herstellen, das groß genug für einen Zebrafisch wäre“, erklärt der Biologe. 100 000 Neuronen steuern den Fisch, dessen Gehirn zu den am besten untersuchten Organen der Tierwelt gehört. Knoblichs Gehirne sind viel kleiner – und sie werden es wohl bleiben, weil der Versuch, sie mit Blutgefäßen zu versorgen, kläglich gescheitert ist. So verhungern die Zellen im Inneren, wenn das Organ größer als ein paar Millimeter wird.
Trotzdem hat Jürgen Knoblich noch einiges vor. Man spürt seine Aufregung, während er auf der Jahrestagung des Deutschen Stammzellnetzwerkes (GSCN) in Heidelberg über die Arbeit der nächsten Jahre spricht. „Wir erleben gerade eine Revolution in der Biologie“, sagt er. Diesen Satz hat man aus dem Mund von Stammzellforschern schon häufig gehört, deshalb schiebt Knoblich ein Beispiel nach. Eine neue Methode, die Genforscher jubeln lässt: CRISPR-Cas. „Es ist das schnellste und präziseste Verfahren, um das Erbgut zu verändern“, erläutert Knoblich, „man kann damit ganz gezielt einzelne Bausteine in der DNA austauschen.“ Was früher bis zu einem Jahr gedauert habe, sei jetzt innerhalb von acht Wochen möglich.
Auf den ersten Blick fehlt der Zusammenhang zwischen Minigehirnen und dem Präzisionswerkzeug der Gentechnik. Doch Knoblich hat die Verfahren bereits kombiniert. Sein erstes Studienobjekt war die Mikrozephalie. Das Gehirn der von dieser Krankheit Betroffenen ist deutlich kleiner als ein normales Organ, die Patienten sind geistig behindert. „Die Krankheit wird mit einem Gen-Defekt in Verbindung gebracht“, sagt Knoblich. Sein Team entdeckte den Fehler, der den Aufbau des Gehirns verändert. „Beim gesunden Gehirn bilden sich 200 Nervenzellen aus einer einzigen Stammzelle, weil erst verschiedene Arten von Vorläuferzellen entstehen. Bei Mikrozephalie fehlen diese Zwischenprodukte und deshalb bilden sich deutlich weniger Nervenzellen.“, erklärt Knoblich.
Demnächst wird ein Gehirntumor simuliert
Als Nächstes entfernte Knoblich mit dem Präzisionswerkzeug den falschen Baustein in der DNA der Patientenzellen und ersetzte ihn durch den richtigen. Die Reparatur zeigte Erfolg. Aus den veränderten Stammzellen entwickelten sich Minigehirne mit fast der gleichen Größe wie bei den gesunden Vorbildern. „Ich sehe darin keine Therapie für die Krankheit, weil das Verfahren nur mit Zellen, nicht aber im Menschen funktioniert“, sagt Knoblich. „Aber wir können immerhin erklären, was genau falsch läuft.“ Daraus könnten sich Ansätze für eine Therapie entwickeln.
Als Nächstes will das Wiener Team in den Minigehirnen den Gehirntumor ATRT simulieren, der sich in den ersten Lebensmonaten bei Kindern bilden kann. Danach will Knoblich nach den Ursachen von Schizophrenie und Epilepsie suchen, die er ebenfalls in den Genen vermutet. Es ist aber fraglich, ob sein einfaches Gehirnmodell so komplexe Krankheiten gut genug abbildet. Man könne es nur versuchen, antwortet Knoblich. Ein anderes Modell gebe es derzeit nicht.
Hoffnungen und Rückschläge auf der Heidelberger Tagung
Heidelberg - Stammzellforscher haben viele Rückschläge zu verarbeiten. Der letzte Skandal steckt den Forschern noch in den Knochen. Die Japanerin Haruko Obokata hatte behauptet, sie könne die begehrten Zellen in einem einfachen Säurebad erzeugen. Doch die Arbeit erwies sich als fehlerhaft, die gezeigten Bilder als gefälscht. „Dieses Paper hätte nie publiziert werden dürfen“, sagt Andreas Trumpp vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg rückblickend.
„Angesichts der Bedeutung dieser Arbeit wäre es richtig gewesen, wenn die Wissenschaftszeitung ‚Nature‘ vorher einige Forscher gebeten hätte, die Methode zu überprüfen“, so der Vorsitzende des Deutschen Stammzellnetzwerkes (GSCN). Trumpp tat das wie viele seiner Kollegen auf eigene Initiative. „Wir hatten sehr schnell das Gefühl, dass da etwas nicht stimmen kann“, sagt er.
„Die Debatte muss wiederaufgenommen werden“
Dabei kann die Stammzellforschung durchaus Erfolge aufweisen. Trumpps Arbeitsgruppe beispielsweise: sie entdeckte auf der Oberfläche von Tumorstammzellen bei Brustkrebs bestimmte Moleküle, an denen sich die Zellen identifiziert lassen, die Metastasen bilden. „Wenn diese gefährlichen Metastasen-Stammzellen bereits im Primärtumor der Patientin nachgewiesen werden, könnte der Arzt diesen Patientinnen eine aggressivere Therapie anbieten“, erklärt Trumpp. So könnte die Bildung von Metastasen vermieden werden.
In den USA gelang Doug Melton ein Durchbruch auf dem Weg zur Therapie von Diabetes-Typ-I-Patienten. Er verwandelte humane embryonale Stammzellen in sogenannte Beta-Zellen der Bauchspeicheldrüse. Seine Beta-Zellen übernahmen in der Maus die Produktion von Insulin und überwachten die Zuckerkonzentration im Körper. „Diese Ergebnisse könnten dazu führen, dass die Debatte um den Einsatz von humanen embryonalen Stammzellen in Deutschland wiederaufgenommen werden muss“, sagt Trumpp. Doug Melton ist Vater zweier Kinder, die an juvenilem Diabetes erkrankt sind.